hr2 ZUSPRUCH
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Vorländer, Martin

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Keinem von uns ist Gott fern

Keinem von uns ist Gott fern

Er liebt seinen morgendlichen Weg zur Arbeit. Mit dem Fahrrad durch die Stadt, bevor ihn der Bürotag in Beschlag nimmt. Es hat geregnet. In einer Kurve kommt er auf der glitschigen Straße ins Rutschen. Ehe er es sich versieht, liegt er am Boden. Das Fahrrad schliddert über den Asphalt. Er liegt am Rücken und sortiert seinen Körper. Irgendwas gebrochen? Jedenfalls schmerzhaft.

Er richtet sich mit noch zittrigen Händen auf. Da kommt eine Gang von fünf, sechs Jugendlichen auf ihn zu – Baseballkappen auf den gestylten Frisuren, in Lederjacken und irgendwo in den Kniekehlen hängenden Hosen, Machogang, offenbar deutschtürkische junge Männer. „Auch das noch!“, stöhnt der gestürzte Radfahrer bei sich. „Jetzt lieg ich schon am Boden und bekomme noch irgendeinen blöden Spruch angeklebt. Was wollen die?“

Da beugt sich der eine junge Mann zu ihm herab: „Sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen helfen?“ Der andere kümmert sich um das Fahrrad, stellt es auf und kontrolliert, ob etwas kaputt ist. Gemeinsam helfen sie dem Mann auf die Beine, fragen ihn, ob sie einen Arzt rufen sollen. „Danke, geht schon!“, sagt der. Er ist zwar vom Sturz noch etwas mitgenommen, aber auch verdattert über die Hilfe von unerwarteter Seite. Er bedankt sich. „Ist doch klar, Mann!“, sagen die.

Später schüttelt er über sich selbst den Kopf: „Ich denke immer, ich kann gut einschätzen, wer Probleme macht und wer nicht. Da lag ich bei diesen Jungs gründlich daneben!“

Völlig daneben – das war meine Einschätzung nach den ersten Nachrichten von den Attentaten in Oslo und auf Utoya. Schon wieder islamistische Terroristen, Al Qaida – dachte ich sofort. Ich war mit diesem Gedanken nicht allein. Die Berichterstattung der Medien ließ das Bild eines dunklen, bärtigen Attentäters erwarten, der im Namen des Islam Blut vergießt. Stattdessen war es ein blonder Norweger, der aus Hass auf eine multikulturelle Gesellschaft, aus Hass auf den Islam glaubt, mit aller Gewalt das christliche Abendland verteidigen zu müssen und in seinem Wahn über Leichen geht.

Festgefahrene Bilder, wie wer angeblich ist, helfen nicht weiter, im Gegenteil: Sie sind brandgefährlich – weil sie zu blindem Hass führen können. Und weil sie manchmal blind für die Gefahr machen, die von scheinbar netten, harmlosen Menschen ausgeht, die auf den ersten Blick wirken wie unsereiner. Ja, es gibt Probleme im Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher Kultur und unterschiedlichen Glaubens. Darüber muss man reden. Aber das Ziel ist, dass wir uns verständigen und uns nicht vom Hass trennen lassen. Ziel ist auch, dass wir gemeinsam ein wachsames Auge haben auf die, die eine friedliche Gesellschaft verhindern wollen. Mich bewegt, was der Apostel Paulus geschrieben hat. Er sagte zu seinen Zuhörern, die eine ganz andere Religion hatten: „Keinem von uns ist Gott fern. Denn in ihm leben, weben und sind wir.“ (Apostelgeschichte 17, 27 f) Das ist für mich Triebfeder, um über Grenzen hinweg das Miteinander zu suchen und denen Grenzen zu setzen, die das Miteinander zerstören wollen.