hr2 ZUSPRUCH
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Arnold-Rammé, Pia

Eine Sendung von

katholische Pastoralreferentin im Ruhestand, Frankfurt

Gott hinter der Leinwand Labyrinth der Wörter

Gott hinter der Leinwand Labyrinth der Wörter

Am Rosenmontag hält man denen, die sich stark fühlen und ihre Schwächen nicht zugeben, ihre Fehler vor Augen. Mit Satire. Am Rosenmontag ist das erlaubt. Die Mächtigen müssen das schon aushalten.

Doch wenn über die Schwachen gelacht wird, dann hört der Spaß auf. Das passiert nicht am Rosenmontag. Aber im Leben schon. Wie im Kinofilm „Labyrinth der Wörter“. Dort trifft der Spott Germain Chase, gespielt von Gerard Depardieu. Germain ist Hilfsarbeiter. Einfach und scheinbar grob geschnitzt. Mit seiner Bildung ist es nicht weit her. Nicht weil er dumm ist. Sondern weil keiner an ihn geglaubt hat. Sein Lehrer hat ihn bei jedem Lesefehler zum Gespött der Klasse gemacht. In so einer Atmosphäre traut man sich bald gar nichts mehr. Und es gelingt einem auch nichts. Aus Angst etwas falsch zu machen, macht man es erst recht falsch. Mit seiner Mutter ging es Germain nicht besser. Er war das Kind aus einer flüchtigen Bekanntschaft. Deshalb passte er seiner Mutter nicht in ihren Lebenslauf. Das ließ sie ihn spüren. Immer und immer wieder. Diese Ablehnung saß tief. Es ist bitter, wie die Weichen im Leben eines Menschen durch andere falsch gestellt werden können. Auch von seinen Kumpels in der Kneipe wird er immer ausgelacht. Als ihn ein Auftraggeber wieder einmal um einen Teil seines Lohnes betrügt, schimpft er laut vor sich hin und schreibt seinen Namen auf das Denkmal für Kriegsopfer. Aus Protest.

Doch Germain ist ein liebevoller Mensch. Er kümmert sich um seine alte Mutter, obwohl die ihn immer noch ständig beschimpft. Er hilft den Menschen um sich herum. Er behandelt seine Freundin als etwas ganz Besonderes. Eines Tages trifft er auf einer Parkbank eine 97 Jahre alte Frau. Sie ist das ganze Gegenteil von ihm: Fast filigran, ganz fein gekleidet, hoch gebildet, voller Kultur. Sie kommen ins Gespräch. Sie liest ein Buch und fragt ihn, ob er auch gern liest. „Es klappt nicht so richtig“, antwortet er.

Daraufhin liest sie ihm vor. In zehn Tagen Mittagspause auf der Parkbank schaffen sie „Die Pest“ von Camus. Er fragt nach einem Satz, der ihm aus dem Buch in Erinnerung ist. „Sie haben ein ausgezeichnetes auditives Gedächtnis“, meint sie. „Nein, nein“, erwidert er, ich kann mir nur gut merken, was ich einmal gehört habe. „Sie sind ein außergewöhnlicher Mensch“, gibt sie ihm mit auf dem Weg. Das hatte noch nie jemand über ihn gesagt.

Sie schenkt ihm ein Buch und er übt mühsam das Lesen. Er liest seiner Freundin vor und sie hilft ihm geduldig dabei. Es klappt immer besser und das Lesen verändert ihn. Die alte Frau hatte ihm zum Glauben an sich selbst verholfen. Sie ist ihm ohne Vorurteile begegnet. Sie hat ihm gezeigt, dass er viel mehr kann, als er dachte. Und dass er etwas wert ist. Sie hat ihm gegeben, was seine Mutter ihm verweigert hat.

Als er die alte Frau im Altersheim besuchen will, ist sie weg. Ihre Verwandten hatten sie in einem billigeren, aber schlimmen Heim untergebracht. Als Germain das sieht, nimmt er sie bei sich auf. Am Schluss sagt der einstige Analphabet poetisch über sie: „Sie lebte inmitten von Worten. Die bis in mein Herz gewandert sind. In Liebesgeschichten gibt es nicht immer ein ‚ich liebe dich’ und doch liebt man sich.“ Ob Jesus solche Begegnungen gemeint hat, wenn er sagt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst?