Bildung und soziale Gerechtigkeit
„Liebe Herren, man muss jährlich soviel aufwenden für Kanonen, Wege, Stege, Dämme und unzählige solche Dinge mehr, wodurch eine Stadt zeitlichen Frieden und Ruhe haben soll. Warum sollte man nicht viel mehr aufwenden für die bedürftige, arme Jugend?“ Das hätte Martin Luther auch heutzutage schreiben können. Im Jahre 1524 sandte er ein Rundschreiben „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen.“ Warum lag ihm das öffentliche Schulwesen so sehr am Herzen?
Für ihn gingen der Gottesglaube und soziale Gerechtigkeit Hand in Hand. Was den Glauben betrifft: Für ihn sind alle Getauften selbstverantwortlich. Kein Priester kann und darf ihnen das nehmen. Aber dann müssen die Menschen auch selbständigen Zugang zu den Quellen des Glaubens haben. Zwar sind gut ausgebildete Glaubenslehrer notwendig. Sie kennen die antiken Quellen und die umfangreiche kirchliche Überlieferung. Aber die Gläubigen müssen überprüfen können, was diese Fachleute lehren, um sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Deshalb hatte Luther die Bibel in sein „geliebtes Deutsch“ übertragen. Nun sollten die Gemeinden lernen, die Bibel und andere Schriften auch zu lesen. Dafür wurden öffentliche Schulen gebraucht. Mit dieser Forderung leiteten Luther und die anderen Reformatoren eine geradezu revolutionäre Bildungsreform ein. Ein enormer Modernisierungsschub war die Folge. Denn gebildete, selbstbewusste Bürger verbessern nicht nur das kirchliche Leben, sondern auch Handel und Gewerbe. Und damit ihren eigenen Lebensstandard. Die reformatorische Bildungsreform war nicht zuletzt auch eine Sozialreform.
Aber das kostete Geld. Deshalb appellierte Luther an die Verantwortlichen, nicht nur die richtigen Prioriäten zu setzen, sondern vor allem auch, die Missbräuche in der Geldwirtschaft abzustellen. Ein Beispiel: In Wittenberg und Umgebung führte eine anhaltende Teuerung zu einer schweren Hungersnot – und sie traf wie immer vor allem die Armen. Neben einer anhaltenden Trockenheit machte Luther vor allem Spekulationsgeschäfte für das Elend verantwortlich. Er schrieb deshalb an den Kurfürsten:
„Es ist hier zu Lande eine plötzliche Teuerung und unversehens Hunger eingefallen...“: „Darum bitten wir, Euer Kurfürstliche Gnaden wollten sich gnädiglich erzeigen, nicht allein mit augenblicklicher Hilfe zur (Linderung) der Not, sondern auch mit Regierungsmaßnahmen, dass die vom Adel nicht also das Korn hinfort allein aufkaufen und wegführen und damit so unverschämt wuchern, zum Verderb Eurer Kurfürstlichen Gnaden Land und Leuten“
Wie der Appell an den Kurfürsten zeigt, hat der Staat die Aufgabe, für eine sozial gerechte Geldwirtschaft zu sorgen. Dann können die Armen unterstützt werden, und genug Geld für die Bildung ist auch vorhanden. Das gebietet der Respekt vor der Menschenwürde, – für Luther eine selbstverständliche Konsequenz des Glaubens. Wie die mühsame europäische Politik der letzten Monate zeigt, gilt das heute ganz genauso wie im Zeitalter der Reformation.