hr2 MORGENFEIER
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Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

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Zu Besuch bei Tod und Trost und bei der Hoffnung

„So ein Trauer-Café kann eine lustige Sache sein,“ sagt Gerhardt zu seiner Frau Natalie. Die beiden sitzen gerade im Auto- auf dem Rückweg von der Beerdigung seiner Mutter. In der Trauerhalle und am Grab wurde viel geweint. Aber danach, bei Kaffee und Kuchen - da brach sich das Leben umso stärker Bahn. Es war ein schönes Wiedersehen in der Familie. Und ein großes Erzählen. Natalie antwortet: „Deine Mutter war auch schon alt, bereit zu gehen.“ 

Gedanken machen über den eigenen Tod

Gerhardt nickt. Nach einer Weile sagt er: „Sie war die letzte unserer Eltern. Als nächstes sind wir dran.“ Der Satz steht still im Raum. Beide hängen ihren Gedanken nach. Sie sind Anfang 60 und wissen: Vermutlich haben sie noch einige Jahre Zeit. Aber sie wissen auch: Es kann viel schneller kommen. Gerhardt fährt fort: „Wir müssen uns darüber Gedanken machen. Wie es einmal mit uns werden soll.“ 

Natalie nickt vorsichtig. Denn sie weiß: Dieses Thema ist heikel. Darüber haben sie verschiedene Meinungen. Natalie ist Altenpflegerin. Sie hat also schon beruflich viel mit dem Thema Tod zu tun. Sie erlebt, wie sehr die Kinder ihrer Schützlinge mit sich selbst beschäftigt sind. Nicht wenige empfinden die Alten eher als Last. Und schnell rücken die Toten in den Hintergrund. Deshalb neigt Natalie dazu, selbst lieber anonym bestattet zu werden. Kein Aufwand. Lieber jetzt schon richtig leben und den Tod wirklich als einen Endpunkt sehen. In Jeder Hinsicht, einfach nichts mehr erwarten - weder von den Angehörigen, noch von einem Gott. In ihrer Familie hat so etwas wie Glauben und Gott keine Rolle gespielt.

Was ist uns wichtig, wenn wir gehen?

Gerhardt ist anders. Seine Familie ist christlich geprägt. Außerdem ist er als Mensch einfach emotionaler. Beruflich ist er sehr eingespannt. Als Speditionskaufmann plant er die Termin-Fracht von LKWs. Das bedeutet Arbeiten im Dauerstress. So bleibt ihm wenig Zeit fürs Nachdenken und für Gefühle. Doch er ist überzeugt: Das Leben hat einen tieferen Sinn - jenseits von beruflicher Hektik. Und einen Wert, der geht über das hinaus, was man in Rechnung stellen kann. 

Gerhardt glaubt deshalb, dass man nach dem Tod nicht einfach verschwindet. Aus diesem Grund stellt er sich für später ein Grab vor. Natürlich ein gemeinsames mit Natalie. Mit ihren beiden Namen darauf. Und mit einer persönlichen Botschaft über das Leben und den Tod. Es soll ein Ort sein, an dem die beiden Kinder ihnen emotional nahe sein können. Gerhardt bittet: „Lass uns darüber reden!“ 

Natalie nickt und schlägt vor: „Okay. Wie wäre es, wenn wir am Wochenende mal in Ruhe über einen Friedhof gehen. Da schauen wir uns alles an. Vielleicht finden wir dabei etwas heraus, was zu uns passt.“ Gerhardt nickt und lächelt.

Musik 1: Bach/Brönner, Air, At The End Of The Day (Till Brönner)

Am nächsten Samstag lacht die Sonne warm vom Himmel. Natalie und Gerhardt tun, was sie verabredet haben. Sie gehen auf einen Friedhof. Im Hintergrund ist der Lärm der geschäftigen Stadt noch zu hören. Auffällig ist jedoch, wie ruhig es auf dem Friedhof ist. Eine ganz eigenartige Ruhe: schwermütig und erholsam zugleich.

Natalie hört Vögel zwitschern. Zwei Eichhörnchen springen einen Baumstamm empor. Alte Bäume stehen hier, mit Narben und Schrammen. Sie haben gute und schlechte Jahre überdauert. Wie die, die nun bei ihnen in der Erde liegen. 

An diesem Ort des Todes ist ganz schön viel Leben

Zwischen Bäumen und Gräbern hindurch sieht Natalie auch Menschen, meist ältere. Sie hantieren mit Gießkanne und Schaufel so selbstverständlich als stünden sie zuhause in der Küche. Offenbar empfinden sie den Friedhof schon jetzt als ein Stück Heimat. Natalie staunt: „An diesem Ort des Todes ist ganz schön viel Leben.“

Gerhardt blickt über eine Reihe von Grabsteinen, viele sind aus Marmor oder Granit. Er murmelt: „Schon eigenartig - unsere Vergänglichkeit meißeln wir ausgerechnet in Steine, die hart genug sind für die Ewigkeit. Aber darum geht es hier wohl: klarkommen damit, dass wir nicht ewig leben, aber doch darauf hoffen.“

Was bedeutet das Kreuz auf den Gräbern?

Natalie fragt ihn: „Was wollen wir hier eigentlich genau herausfinden?“ Gerhard antwortet: „Was es mit dem Tod auf sich hat.“ „Okay“, sagt Natalie. „Dann lass uns anfangen. Ich sehe hier ganz viele Kreuze. Mal aus Holz, mal aus Marmor. Warum eigentlich? So christlich sind die Menschen doch gar nicht mehr.“

Gerhard entgegnet: „Wer weiß das schon. Man schaut ja niemandem ins Herz. Aber ich finde, das Kreuz passt hierher. Es steht ja auch für das Leiden. Davon bringt der Tod eine Menge. Viele Sterbende haben Schmerzen und Angst. Die Angehörigen bleiben mit ihrer Trauer alleine zurück. Dazu passt das Kreuz. An dem hat auch Jesus gelitten, ist daran gestorben.“

Manchmal ist der Tod auch eine Erlösung

Natalie stimmt zu: „Ja, rund um den Tod wird viel gelitten, das erlebe ich im Pflegeheim oft. Aber manchmal ist der Tod auch eine Erlösung. Wir sind nicht für die Ewigkeit gemacht.“ Gerhardt sagt: „Deshalb gefallen mir auch die Kreuze besser, die blank sind. Wenn darauf kein gekreuzigter Jesus zu sehen ist. Die mit Körper, die Kruzifixe - die tun so, als hänge Jesus auf ewig im Leiden fest. Dabei ist er doch auferstanden. Das Kreuz war am Ende leer.“

Gerhardt deutet auf ein nahegelegenes Familiengrab. „Schau mal, der Grabstein da zeigt es sogar: Das Bild oben: Das ist das Grab von Jesus. Er steigt aus dem Grab heraus, geht ins ewige Leben bei Gott. Siehst du seine Handbewegung? Sie lädt ein mitzukommen.“

Eine Frage: Wohin führt uns der Tod?

Nathalie überlegt: „Am Grab ist das sicher eine tröstliche Vorstellung“. Dann sagt sie: „Wohin führt uns der Tod? Diese Frage begegnet mir bei der Arbeit immer wieder. Ich bin gespannt, welche Antworten wir darauf hier noch finden. Komm, lass uns weiter gucken!“

Bei Weitergehen staunt Natalie, wie viele Gräber Botschaften an die Hinterbliebenen tragen. In Stein gemeißelter Trost. Ein Grabstein trägt die Aufschrift: „Seid getrost, an einem besseren Orte werden wir uns wiedersehen.“ Sie überlegt: Welcher Ort könnte das sein? Den gibt es wohl nur, wenn man glaubt, dass nach dem Tod noch etwas kommt. Glaubt sie das? Eigentlich nein. Oder doch? Sie weiß es nicht. 

Ein anderer Stein wird konkreter: „Die Lieben, die der Tod getrennt, vereint der Himmel wieder.“ Kann das ein echter Trost sein? Oder ist es eine Vertröstung, die nur verschleiert, wie endgültig der Tod ist?“ Das überlegt Natalie. Derweil steht Gerhardt einige Meter weiter vor einem Grabstein, der aussieht wie der Ball eines Kindes. 

Musik 2: Zimmermann/Moser, Ballade pur Henry, First Impression (Stefan Zimmermann/Axel Moser)

Gerhardt steht vor einem Grabstein, der wie ein Ball geformt ist. Darunter liegt ein dreijähriges Kind begraben. Wie passend der Grabstein und wie schrecklich das Schicksal, findet Gerhardt. Auf einem anderen Grab liest er als Todesdatum nur die Jahreszahl 1945. Daneben steht: „vermisst im Osten“. Gerhardt zuckt zusammen. Auch hier so viel vorenthaltenes Leben! Denn der Soldat, der im Zweiten Weltkrieg verloren ging, war erst Anfang 20. Gerhardt wird zornig, er denkt: „Wie kann der Tod so wahllos zuschlagen! 

Warum verhindert Gott nicht den Tod von jungen Menschen?

Warum schreitet Gott da nicht ein und verhindert das? Gott ist doch der Allmächtige, der kann das.“ Gerhardts Blick fällt auf ein Kreuz. Dabei kommt ihm der Gedanke, dass es bei Jesus genauso war. Dessen Tod hat Gott auch nicht verhindert. Das gleiche Unrecht, das gleiche Leid. Mehr noch: Gott ist ja in Jesus Mensch geworden. Gott hat dieses Unrecht also nicht nur nicht verhindert, sondern er hat es sogar selbst auf sich genommen. Um nahe bei den Menschen zu sein. Um ihr Schicksal zu teilen, um zu trösten, um solidarisch zu sein im Leid und auch im Tod. 

Während Gerhardt darüber nachdenkt, wird er auf eine weitere Grabschrift aufmerksam: „Getreu bis in den Tod“. Gerhardt runzelt die Stirn. Für ihn klingt das nach Nazizeit. Aber dann fällt ihm ein Kollege ein. Der hatte als letzter kurz vor Weihnachten noch Überstunden gemacht. Dabei kam der Schlaganfall. Niemand war mehr da, der ihm hätte helfen können. Er starb im Büro. „Getreu bis in den Tod“, murmelt Gerhardt. 

Ein Satz des Trostes steht auf dem Grabstein

Ein paar Meter weiter liest Gerhardt den Spruch erneut, doch dieses Mal in einer längeren Fassung: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ Darunter steht auch, woher dieser Satz stammt: Offenbarung 2, Vers 10. Gerhardt versteht. Das ist ein Vers aus der Bibel. Später wird er im Internet nachlesen: Mit diesen Worten tröstet ein Engel verzweifelte Menschen. Sie leben in schweren Zeiten. Der Engel ermutigt und ermahnt sie durchzuhalten. Wenn sie das schaffen, winkt ihnen am Ende die Krone des Lebens. 

Krone des Lebens: Eine eigeneartige Wendung. Kronen aus Lorbeer waren früher Siegeszeichen im Sport oder im Krieg. Die Bibel deutet dieses Zeichen um. Sie beschreibt die Dornenkrone von Jesus am Kreuz als Siegeszeichen. Das heißt: Die Krone des Himmels erringt man nicht im siegreichen Kampf, sondern durch Treue zu Gott. Der Weg zu dieser Krone kann dornig sein, kann durch Leid und Tod führen – hin zur Auferstehung in den Himmel. 

RIP: Den Tod als Ruhe und Frieden erleben

„Getreu bis in den Tod.“ Gerhardt mag diesen Spruch nicht. Er klingt ihm zu sehr nach Gehorsam und Pflichterfüllung. Davon hat Gerhardt schon genug im Leben. Doch er will an das glauben, was dahintersteht: dass Gott die Toten zu sich holt. Diese Zusage drückt eine andere Grabinschrift viel schöner aus, findet Gerhardt: „Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen“. (Psalm 116,9

Natalie zeigt auf einen benachbarten Stein und sagt: „Schon wieder das RIP. Requiescat in Pace oder Rest in Peace, Ruhe in Frieden. Das habe ich jetzt schon oft gelesen. Ich finde es schön. Der Tod nicht als Schrecken, sondern als Ruhe, als Frieden. Als Sehnsuchtsort ohne Sorgen, Hektik und die harte Arbeit des Alltags.“ 

Auch lustige Sprüche sind auf Grabsteinen zu finden

Natalie macht eine kleine Denkpause. Dann sagt sie: „Von dieser Ruhe hat man allerdings nur etwas, wenn man sie auch erlebt. Sonst ist es nur eine schöne Vorstellung für die Hinterbliebenen.“ „Oder es ist ein Ansporn, schon im Leben für genügend Ruhe und Frieden zu sorgen.“, entgegnet Gerhardt und ergänzt: „Ich finde: ein guter Vorsatz.“

Natalies Augen sind schon weitergegangen und haben etwas Spannendes gefunden. Sie sagt: „Guck mal, Gerhardt! Auf dem Friedhof gibt es sogar etwas zum Lachen. Das hätte ich nicht gedacht.“ Gerhardt eilt zu ihr. Offenbar handelt es sich um das Grab eines Professors von der Universität. Denn darauf steht: „Mein ehrliches Forschen wie das Glück ich erhasche. Hier lieg ich als Asche.“ Auch Gerhardt muss schmunzeln. Hier hat jemand Humor und Poesie, nimmt sich selbst nicht allzu wichtig. Schon zeigt Natalie auf ein anderes Grab und sagt: „Ach, du liebe Zeit? Was hältst du denn davon?“

Musik 3: Lary Goldings, Cocoon, Quartett (Quartett Lary Goldings)

Gerhard folgt seiner Frau und sieht eine Grabplatte. Darauf tummelt sich ein Sammelsurium von kleinen Figuren: Quietschrote Flamingos, eine Schnecke, ein Astronaut, kleine Zwerge, kindliche Engelsgestalten und manches mehr.  Gerhardt fühlt sich an ein Märchenland erinnert und sagt: „Hier hat wohl jemand seine ganz eigene Vorstellung über das Leben nach dem Tod. Und nimmt etwas mit von dem, was ihm zu Lebzeiten gutgefallen hat.“

Natalie hat zwar wenig Sympathie für die althergebrachten Grabsteine aus Marmor und Granit. Gerne würde sich etwas anderes vorstellen. Aber es ist offenbar nicht leicht neue, moderne Symbole zu finden. Dieses Sammelsurium hier wäre jedenfalls für sie keine Alternative. „Genug für heute“, sagt sie. Gerhardt nickt. Die beiden gehen Richtung Ausgang. Dabei fragt Gerhardt: „Und: Was hat dich hier angesprochen?“

Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Nathalie denkt eine Weile nach. Dann sagt sie: „Ich muss noch einmal in mich hineinhorchen. Ob da doch ein Funken von Glauben ist – an ein Leben nach dem Tod, etwas jenseits von allem, was ich kenne. Was du vielleicht Gott nennen würdest. Oder Himmel. Diese Frage stellt mir der Tod. Und wenn er kommt, wird es für eine Antwort zu spät sein.“ 

Natalie fährt fort: „Ich bin heute zum ersten Mal freiwillig auf einem Friedhof und habe Zeit mich umzuschauen. Hier ist so viel Leben – es ist ein schöner Ort, auf spezielle Weise. Inzwischen kann ich mir sogar vorstellen hier ein Grab zu haben. Damit die Kinder wissen, wo sie uns nahe sein können. Damit wir zeigen, dass wir mal da waren – und es irgendwie auch noch sind.

Schmetterlinge auf Gräbern als Zeichen für die Zerbrechlichkeit der Seelen

Über Gerhardts Gesicht huscht ein glückliches Lächeln. Er freut sich, denn das wünscht er sich auch. Er fragt Natalie: „Und wie kann es aussehen? Hast Du etwas gesehen, was zu uns passen könnte? Natalie nickt. Auf manchen Gräbern hat sie Schmetterlingsfiguren gesehen. Die haben ihr gut gefallen. Sie sind sanft, schön und zerbrechlich – wie Seelen. 

Zudem schlüpfen Schmetterlinge aus einer Raupe heraus zu neuem Leben. Den alten Kokon lassen sie hinter sich und fliegen los. Gerhardt ist erstaunt, denn Schmetterlinge und Gräber gehörten für ihn bisher noch nicht zusammen. Aber es gefällt ihm, denn es gefällt seiner Frau. Nun fragt Natalie ihn: „Was hat dich besonders beeindruckt?“

Weint nicht, dass es vorbei ist, sondern lacht, weil es schön war

Gerhardt erzählt vom Grab eines Mannes. Gestorben im Jahr 2002. Darunter steht der Name seiner Frau Waltraud samt Geburtsdatum. Aber ihr Sterbedatum fehlt. Offenbar hat Waltraud ihren Namen damals gleich mit meißeln lassen. Praktisch. Aber auch wirklich zu Ende gedacht? Denn entweder ist Waltraud inzwischen 110 Jahre alt. Oder das Leben hat ihre Erwartungen durchkreuzt und sie ganz woanders hingeführt. Das hat Gerhardt nachdenklich gemacht. 

Er sagt: „Man sollte nicht zu früh planen. Und nicht zu viel schon festlegen. Lieber offen sein für das, was uns die Zukunft noch bringt.“ Natalie nickt und sagt: „Es ist schön hier mit dir. Gut, dass wir hergefahren sind.“ Dann erzählt sie ihm von einem Satz, den sie vorhin gelesen hat. Er lautet: „Weint nicht, dass es vorbei ist, sondern lacht, weil es schön war.“ Dieser Vers hat sie an die letzte Trauerfeier in der Familie erinnert. Sie sagt: „Da habe wir diesen Vers gelebt, Gerhardt. Da haben wir nicht nur geweint, sondern auch zurückgeschaut und gelacht. Da haben wir den Tod mit ganz viel Leben umschlungen. Das hat mir gut gefallen.“ Gerhardt nickt und weiß nicht ob er weinen oder lachen soll.

Musik 4: Lars Trier & Cristian Sievert, Adelita, The Bird in the Oak (Lars Trier & Christian Sievert)