Endzeitstimmung zwischen Angst und Gottvertrauen
Das Jahr geht in wenigen Wochen zu Ende; das Kalenderjahr. Das Kirchenjahr geht schon in zwei Wochen zu Ende. Mit dem Ersten Advent beginnt ein neues. Das Ende des Kirchenjahrs bringt es mit sich, dass in den Gottesdiensten Texte aus der Bibel gelesen werden, die sich mit dem Ende der Zeit, mit dem Ende der Welt beschäftigen. So liest man heute in den katholischen Gottesdiensten einen Abschnitt aus dem Lukas-Evangelium, der sich mit der Frage beschäftigt: Wann kommt denn das Ende der Welt? (Lukas 21,5-19)
Aber das Ende kommt noch nicht sofort
Die Erzählung beginnt damit, dass Menschen in Jerusalem staunen, wie großartig der Tempel dort gebaut ist und wie schön er ausgestattet ist. Staunen über die Schönheit von Tempelanlagen oder in unserer Breiten von Kirchen und Domen kennen wir auch. Dann sagt aber Jesus: „Es werden Tage kommen, an denen von allem, was ihr hier seht, kein Stein auf dem anderen bleibt.“ Erschrocken fragen ihn die Leute: „Meister, wann wird das geschehen und was ist das Zeichen, dass dies geschehen soll?“ Jesus gibt zur Antwort: „Gebt acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden in meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! Und: Die Zeit ist da! – Lauft ihnen nicht nach! Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken! Denn das muss als erstes geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort. Dann sagte er zu ihnen: Volk wird sich gegen Volk und Reich gegen Reich erheben. Es wird gewaltige Erdbeben und an vielen Orten Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen.“
Gebt Acht, dass man euch nicht in die Irre führt!
Als diese Worte aus dem Lukas-Evangelium niedergeschrieben wurden, gab es in der Tat in der jungen Christenheit eine Art Endzeitstimmung. Viele glaubten, Jesus selbst komme bald wieder auf die Erde und besiegle damit das Ende der Welt. Solche – heute würden wir sagen – Verschwörungstheorien geisterten damals durch die Gemeinden. Und Kriege, Seuchen, Naturkatastrophen wurden als Vorboten für das nahe Ende angesehen. Bibelwissenschaftler haben nachzuweisen versucht, welche Kriege, Seuchen und Erdbeben hier im Evangelium des Lukas gemeint sein könnten. Der Text entstand in den Jahren 70 bis 80 nach Christus. Aber selbst wenn da konkrete Ereignisse im Hintergrund stehen, ich bin froh über den Satz Jesu: „Gebt Acht, dass man euch nicht in die Irre führt! Viele werden in meinem Namen auftreten. Lauft ihnen nicht nach!“
Niemand weiß, wann sein Leben endet oder die Welt untergeht
Es hat im Laufe der Geschichte immer wieder fromme Leute gegeben, die das Ende der Welt voraussagten. Und die das an bestimmten Ereignissen wie eben Krieg und Katastrophen festmachten. Ich habe sowas noch nie geglaubt. Jede Generation erlebt Kriege und Katastrophen – wir ja heute auch,und in welchem Ausmaß! Das sind für mich keine Vorboten des Endes. Niemand weiß, wann die Welt untergeht! Wir kennen ja noch nicht einmal die Stunde, wann unser eigenes Leben, wann mein Leben zu Ende geht!
Musik 1: aus: Denis Gaultier, Tombeau de Mons.r de Lenclosin in a-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 12)
Jesus beruhigt die, die sich zu ihm bekennen
Der Bibeltext, der heute in den katholischen Gottesdiensten gelesen wird, spricht vom Ende der Welt und sagt, dass Kriege und Katastrophen dieses Ende ankündigen. Der Abschnitt aus dem Lukas-Evangelium spricht dazu auch noch drastisch von anderen Ereignissen, die vor dem Ende der Welt stehen. Der Text entstand in der Zeit der beginnenden Christenverfolgung. Und diese Situation wird meines Erachtens hier aufgegriffen. Deshalb sagt Jesus: „Aber bevor das alles geschieht, wird man Hand an euch legen und euch verfolgen.“ Er sagt weiter: Sogar in der eigenen Familie und im Freundeskreis wird nicht verstanden, dass man Christin, dass man Christ wird. Und Jesus beruhigt diejenigen, die sich zu ihm bekennen, sie sollen keine Angst haben in den Verhören und vor Gerichten. Er selbst werde helfen, in solchen Situationen die rechten Worte zu finden. Das wirkt ermutigend. Und zugleich kommt da der harte Satz: „Manche von euch wird man töten“.
Euch wird kein Haar gekrümmt. Ihr werdet leben!
Dahinter steckt wohl die Erfahrung der jungen Christengemeinde. Aber dieser Bibel-Abschnitt zeichnet die Welt und selbst ihr Ende nicht allein in dunklen Farben. Die letzten beiden Sätze, die Jesus sagt, lauten: „Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.“
Wie passt das zusammen? Krieg, Erdbeben, Hungersnöte, Verfolgung und Tod und dann: Euch wird kein Haar gekrümmt. Ihr werdet leben!
Wir müssen die Spannung aushalten
Voll erklären lässt sich das nicht. Die Spannung muss ausgehalten werden. Die Balance zwischen Angst und Vertrauen. Viele hatten damals Angst: Wie geht es weiter angesichts der vielen negativen Ereignisse? Wir kennen das ja heute auch. Die Kriege ganz in unserer Nähe, Naturkatastrophen, Überschwemmungen, die wir fast täglich in den Nachrichten mitbekommen, die Klimakrise, wirtschaftliche Sorgen, in manchen Ländern politische Unruhen, das alles verunsichert und macht Angst. Und im Blick auf das Evangelium muss gesagt werden: Auch in unserer Zeit gibt es Unterdrückung und Verfolgung von Christen, werden Menschen wegen ihrer Religion oder politischen Anschauung benachteiligt und ausgegrenzt.
Lass dich nicht von den Katastrophenmeldungen runterziehen
Das Evangelium spricht all das offen an; da wird nichts beschönigt. Und doch sind da die Zeilen, die Mut machen. Für mich heißt das: Lass dich von all den Katastrophen-meldungen nicht runterziehen. Gib acht, dass du nicht falschen Propheten auf den Leim gehst, auch wenn sie sich noch so fromm geben. Halte fest an dem, was dir Hoffnung gibt. Das ist mein Glaube an Jesus Christus.
Balance halten zwischen Angst und Gottvertrauen
In diesem Glauben stelle ich mich immer neu der Aufgabe: Im Leben eine gute Balance zu halten zwischen einer oftmals begründeten Angst, die mich zuweilen beschleicht, und einem Gottvertrauen, das mir in die Wiege gelegt wurde, ein Gottvertrauen, das hilft, gerne und zuversichtlich zu leben.
Musik 2: Francois Dufaut, Tombeau de M.r Blanrocher in g-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 10)
Der Volkstrauertag soll Kraft geben zu „Nie wieder Krieg!“
Von Kriegen ist in der Bibelstelle die Rede, die heute in den katholischen Gottesdiensten gelesen wird. Krieg war meiner Generation – ich bin Mitte der 1950er Jahre geboren – lange fern. Irgendwo gab es sie auf der Welt. Weit weg. Einmal im Jahr kam er mir etwas nahe. Am Volkstrauertag. Heute, zwei Sonntage vor dem Ersten Advent, ist Volkstrauertag. Seit 1952 gedenkt man in unserem Land an diesem Tag der Toten der beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert und der Toten von Gewalt und Terror. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird es heute in Berlin und im ganzen Land Gedenkfeiern geben. Die Toten sollen und dürfen nicht vergessen sein. Ihr oft so sinnloser Tod soll Kraft geben zu einem „Nie wieder Krieg!“
Viele kannten die Namen auf dem Denkmal
In meinem Heimatdorf versammelte man sich nach dem Sonntagsgottesdienst am so genannten Krieger-Denkmal in der Mitte der Gemeinde. Der Bürgermeister hielt eine Rede. Und viele, die dabeistanden, kannten die Namen, die auf dem Denkmal verzeichnet waren. Der Bruder meiner Mutter war auch dabei. Da wurde mir immer neu klar, warum meine Oma so oft traurig war. Aber insgesamt war Krieg für mich weit weg und wurde immer ferner. Das jährliche Gedenken am Volkstrauertag habe ich aber im Laufe der Jahrzehnte immer mitgemacht an den Orten, an denen ich war. Ein Gedenken ist mir besonders in Erinnerung. Ich habe ein paar Jahre in Bayern gelebt und dort in einem Dorf oft mit der Gemeinde den Sonntagsgottesdienst gefeiert. Es ist jetzt zwölf oder dreizehn Jahre her, da fuhr ich sonntags wieder in dieses Dorf. Es war Volkstrauertag und ich dachte, wir gehen auch dort an das Kriegerdenkmal, ich spreche ein Gebet, der Bürgermeister spricht. Alles wie immer.
Ein neuer Name kam auf das Kriegerdenkmal
Nein, nicht alles wie immer. Die Kirche war übervoll. Auch mit vielen jungen Leuten. Ich war erstaunt. Der Kirchenchor sang. Nachher auch noch mal am Kriegerdenkmal. Fahnenabordnungen standen da. Der Bürgermeister sprach. Ich änderte rasch meinen Gebetstext. Denn zu den alten Namen auf dem Denkmal war ein neuer gekommen. Ein junger Mann aus dem Dorf war als Soldat in Afghanistan umgekommen und in die Heimat überführt worden. Krieg war plötzlich ganz nah. Junge Leute hatten Tränen in den Augen. Ich ging dann noch zu den Eltern des gefallenen Soldaten ans Grab ihres Sohnes. Dass so viele da waren, dass wir gemeinsam beteten, das war ihnen hoffentlich Trost in ihrem Leid.
“Sie fallen mit verneinender Gebärde” – niemand stirbt gerne
Und mir fiel wieder ein, dass ich mich als Kind oft gefragt hatte, warum man sagt, wenn ein Soldat im Krieg stirbt, er sei gefallen. Eine richtige Antwort habe ich nicht. Aber ich denke da gern an ein bekanntes Herbst-Gedicht von Rainer Maria Rilke: „Die Blätter fallen, fallen wie von weit, … sie fallen mit verneinender Gebärde.“
Ja, in dem Gedicht ist Fallen und Sterben das Gleiche. Und gut hat der Dichter das Fallen der Blätter beobachtet. Sie stürzen nicht einfach so runter vom Baum; sie fallen in ihrem Hin und Her mit – wie er sagt – „verneinender Gebärde“. Ja, niemand geht gerne aus dem Leben, niemand stirbt gerne, auch nicht der Soldat in Afghanistan, der eigentlich Frieden aufbauen will.
Doch einer hält das Fallen unendlich sanft in seinen Händen
Das Gedicht von Rilke, das davon spricht, dass einmal alle Lebenden fallen, kann am Volkstrauertag einen gewissen Trost geben. Mit seinen letzten Zeilen:
„Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“
Rilke schreibt hier in der Tradition des christlichen Abendlandes. Ich denke bei diesem Einen, der unser „Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“, an den Gott und Vater Jesu Christi, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der jedes seiner Geschöpfe liebt und niemals vergisst. „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“
Musik 3: Robert de Visée, Tombeau de Vieux Gallot, Allemande in a-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 5)
Manchen fehlt ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens
Von Kriegen, Hungersnöten, Katastrophen und Christenverfolgung ist in der Bibelstelle die Rede, um die es mir heute geht. Also vom Tod. Der Volkstrauertag erinnert an die Toten der Kriege und des Terrors. Gut, dass es Erinnerung gibt und Gedenken. Das verhindert das Vergessen. Das mahnt zum „Nie wieder Krieg!“. Das tut denen gut, die einen lieben Menschen verloren haben, manchmal in einem – wie wir sagen – sinnlosen Tod. Ihnen fehlt zuweilen ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens. Sie können an kein Grab gehen. Es ist zu weit weg. Wir kennen Bilder von großen Soldatenfriedhöfen in anderen Ländern, die gottlob vom „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ gepflegt werden. Ja, es ist gut, einen Ort der Erinnerung zu haben. Viele Menschen schätzen das gerade jetzt im November, wenn sie zwischen Allerheiligen und Totensonntag an die Gräber ihrer Verstorbenen gehen, Blumen ablegen, Lichter entzünden, beten. Aber wie gesagt, es gibt nicht immer einen festen und nahen Ort der Erinnerung.
Am Altar sind wir mit unseren Toten verbunden
Ich denke in diesem Zusammenhang an ein Wort der Heiligen Monika, der Mutter des berühmten Bischofs und Kirchenlehrers Augustinus. Sie starb im Herbst 387 während ihrer Rückreise von Rom nach Nordafrika. Sie trug ihrem Sohn auf: „Begrabt mich, wo ihr wollt, aber gedenket meiner am Altar.“ Christinnen und Christen gedenken ihrer Verstorbenen in jeder Eucharistiefeier, in jedem Abendmahl, auch an diesem Sonntagmorgen. Am Altar wissen sie sich mit ihren Toten verbunden, denn – so sagt es die kirchliche Tradition – hier begegnen sich Himmel und Erde, weil in Gott die Lebenden und die Toten verbunden sind.
Eine Bitte aus einem der ältesten Gebete
Am Tiefsten kommt das für mich zum Ausdruck in einer Bitte aus einem der ältesten Gebete der Eucharistiefeier (Erstes Hochgebet), wo es heißt: „Führe alle, die in Christus entschlafen sind, in das Land der Verheißung, des Lichtes und des Friedens“. Christinnen und Christen glauben, dieses Land gibt es, auch wenn wir es mit dem Verstand nicht erfassen und mit Worten nicht beschreiben können.
Der heutige November-Sonntag wird bestimmt durch Stichworte wie Krieg und Katastrophe und Tod. Doch auch die Stichworte Erinnerung, Ermutigung und Achtgeben vor falscher Angst fehlen nicht.
Trotz Krieg und Tod vertraue ich der Zusage Jesu: Ich bin mit dir!
Für mich heißt das, gerade auch an diesem Volkstrauertag: Auch wenn die Bilder von Krieg und Zerstörung, von Katastrophen und Krisen mich belasten, auch wenn ich Verunsicherung und Ängste spüre, ich vertraue der Zusage Jesu: Lass dich nicht verrückt machen. Ich bin mit dir.
Und ich bete für alle Toten, für meine Eltern und Verwandten, Weggefährtinnen und Freunde und für alle gefallenen Soldaten, dass sie erfahren dürfen, was es heißt, dass es da Einen gibt, der unser aller Fallen ganz sanft in seinen Händen hält!
Musik 4: Wilhelm Friedemann Bach, Fantasia d-Moll (CD: Tombeaux. Remembrances, Michael Dücker, Laute / Johanna Seitz, Harfe, Prospero / WDR The Cologne Broadcasts 2020, Track 1)