Trauer und Toleranz – gemischte Gefühle im November
Zur Hälfte ist er schon wieder rum, der November. Vielen ist das bestimmt gerade recht. In den letzten Wochen war schon so einiges typisch November: Wenn ich aufstehe, ist es dunkel, auf dem Weg zur Arbeit oft nass und im Büro kalt. Manchmal kommt es mir vor, als würde alles weniger: die Sonne, die Tageslichtstunden, die Blätter an den Bäumen, die Temperaturen. Da passt es ganz gut, find ich, dass in diesen Monat die Totengedenktage der großen Kirchen fallen. Ich komme am Ende vom Herbst auch oft auf trübe Gedanken. Aber zum Glück ist das ja nur die eine Seite. Es gibt auch Tage wie den 11.11. – morgens wird die neue Fastnachtssaison eröffnet, nachmittags gehen die Kids Laterne laufen, es gibt Punsch und Martinsgänschen oder Weckmänner. Oder nächsten Freitag - bestimmt fiebern schon einige den Black-Friday-Schnäppchen entgegen, und wen nichts davon abgeholt hat, der oder die freut sich vielleicht auf den ersten Advent und die ersten Abende auf den Weihnachtsmärkten Ende des Monats.
Die beiden Tage haben doch mehr miteinander zu tun
Wir sind also gerade mittendrin im vielseitigen Monat November. Der heutige Tag passt da gut dazu. Zufällig fallen heute nämlich zwei ziemlich verschiedene Tage aufeinander, einer bundesdeutsch, einer international. Den einen gibt es schon seit über 100 Jahren, der andere ist mit 30 Jahren noch ziemlich jung. Es sind der Volkstrauertag und der Internationale Tag der Toleranz. Allzu oft fallen sie nicht aufeinander, und zuerst habe ich gedacht: Na, das passt ja nicht so gut, Volkstrauer und das Feiern einer vielfältigen Gesellschaft. Aber dann hab ich gemerkt: Die beiden Tage haben auf den zweiten Blick mehr miteinander zu tun, als ich zuerst dachte.
Zum Volkstrauertag hatte ich nie eine besondere Beziehung, und wahrscheinlich ist das ganz normal. Es zeigt ein großes Privileg. Ich bin im Frieden aufgewachsen. Schon meine Eltern haben nicht mehr kämpfen oder hungern müssen, diese Geschichten kenne ich nur von den Großeltern. Die meisten meiner Freunde haben keinen Wehrdienst geleistet, die wenigsten hatten je eine Waffe in der Hand. Und niemand in meinem Umfeld träumt von einem Heldentod.
Die Flaggen wurden gehisst zur Feier des Tages
Das ist keine Selbstverständlichkeit. In den mehr als 100 Jahren, die es den Volkstrauertag schon gibt, hat er einige Wandlungen mitgemacht, genauso wie die deutsche Gesellschaft. Erst wurde ausschließlich der gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs gedacht. Dann wurden die Untertöne von Heldenmut und Opfer fürs Vaterland stärker, in der NS-Zeit hieß der Tag zehn Jahre lang Heldengedenktag und war gar nicht zum Trauern gedacht, die Flaggen wurden voll gehisst zur Feier des Tages. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das natürlich vorbei. Aber das Verständnis davon, wer oder was genau der Gegenstand des Gedenkens sein soll, entwickelt sich immer weiter. Kriegsopfer sind längst nicht nur Soldaten, und in Deutschland kommen die vielen Millionen Opfer des Nationalsozialismus noch zu den Kriegstoten hinzu, genauso wie in späteren Jahren die Mauertoten und anderen Opfer des SED-Regimes.
Was kann sich wiederholen, was können wir verhindern?
Wenn ich mir so geballt vor Augen führe, wie viel Elend Menschen allein in den letzten 120 Jahren nur in Deutschland und durch Deutschland erlitten haben, dann ist das eine erdrückende Bilanz. Wie lernfähig sind wir Menschen wirklich? Was kann sich wiederholen, was können wir verhindern? Und vor allem, wie?
Wir Menschen stürzen uns nicht nur immer wieder gegenseitig in Abgründe – zum Glück fangen wir auch immer wieder hoffnungsfroh neu an. Der Internationale Tag der Toleranz ist ein gutes Beispiel. Die UNESCO hat ihn 1995 eingeführt, um das friedliche Zusammenleben der Völker und auch innerhalb der Gesellschaften zu fördern. Die Idee dahinter ist also eigentlich Kriegs- und Gewaltprävention.
Ich allein fühle mich dagegen oft machtlos
Und die ist ja leider nach wie vor wichtig. Ich habe fast mein ganzes Leben lang nur Frieden erlebt. Aber es gibt ihn eben auch wieder, den Krieg in Europa. Und es gibt nicht nur Aggression zwischen Staaten, auch in unserer Gesellschaft geht es oft nicht friedlich zu. Das merk ich schon, wenn ich in den Sozialen Medien unterwegs bin oder einfach im Straßenverkehr. Ich allein fühle mich dagegen oft machtlos. Und auch dieser einzelne Tag der Toleranz kann nicht dafür sorgen, dass überall Frieden ausbricht. Aber er kann mich erinnern: Wir brauchen auch heute noch mehr Toleranz in unserem Land und zwischen den Ländern! Und ich kann etwas dazu beitragen.
Wir sind verschiedener Meinung
Toleranz ist ein altes Konzept, das zeigt schon die lateinische Wortherkunft. Ursprünglich geht es um die Frage: Wie viel kann ich aushalten? Wie viel Kälte oder Schmerzen, wie viel Abweichung bei einer Messung, oder eben auch, wie viel von einer anderen Meinung? In Worten der Alltagssprache: Wie lange kann ich vor einem überfüllten Glühweinstand anstehen, bis ich frustriert nach Hause gehe und mir selbst einen Tee koche? Wie oft kann ich in einer Ansprache das generische Maskulin hören, bevor ich aufspringe und frage, ob ich als Frau auch gemeint bin oder besser gleich gehen soll? Und schaffe ich es, in einem Streitgespräch zu sagen – und auch zu meinen – wir sind verschiedener Meinung, das wird auch so bleiben, und das ist in Ordnung?
Was ist noch freie Meinungsäußerung?
Toleranz ist wichtig, damit wir gut zusammenleben können, damit sich niemand nur anpassen muss und alle ein Mindestmaß an individueller Freiheit haben können. Aber es ist auch wichtig, dass die Toleranz Grenzen hat. Es ist sprichwörtlich geworden, dass die Toleranz alles toleriert, nur nicht die Intoleranz. Es ist immer eine große Aufgabe und oft eine Gratwanderung, die feine Linie zu finden, die persönliche Freiheit verschiedener Menschen und die Bedürfnisse der Gesellschaft gegeneinander abzuwägen. Was ist noch freie Meinungsäußerung, was gefährdet den Zusammenhalt oder die Rechte anderer Menschen?
Wie feiert man denn richtig Gottesdienst?
Auch unter den ersten Christinnen und Christen gab es diese Frage nach dem richtigen Maß. Schließlich kamen in den ersten Gemeinden sehr unterschiedliche Menschen zusammen – aus verschiedenen Weltgegenden, mit verschiedenen finanziellen Möglichkeiten und auch mit verschiedenen religiösen Hintergründen. In den Briefen im Neuen Testament, die auf die konkreten Situationen in den Gemeinden eingehen, ist von Ärger, Streit und Spaltung die Rede. Wie nah darf man dem Staatskult kommen? Welcher Strömung, welchem Prediger soll man folgen? Wie feiert man richtig Gottesdienst?
“Ihr alle seid einer in Christus Jesus”
Die Briefautoren, allen voran Paulus, haben auf alle Fragen immer eine Antwort: ihr habt doch einen gemeinsamen Mittelpunkt: ihr glaubt, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist, dass er uns Gottes Liebe zeigt und den Weg zu Gott frei gemacht hat. Daran müsst ihr alles messen. Das soll eure gemeinsame Toleranzgrenze sein. Ganz deutlich schreibt Paulus das in seinem Brief an die Gemeinden in Galatien: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,27-28)
Niemand soll hungern oder wohnungslos sein
Für unsere deutsche Gesellschaft gibt es auch so einen gemeinsamen Bezugspunkt: die Menschenwürde. Im ersten Artikel des Grundgesetzes ist sie uns aufgetragen. Jeder Mensch hat einen Anspruch darauf, dass seine Menschenrechte nicht verletzt werden. Niemand soll hungern, wohnungslos sein oder Gewalt erleben. Alle sollen glauben dürfen, was sie wollen, sich politisch einbringen und ihre Kinder in Frieden aufwachsen sehen. Diese Grundsätze sind universell. Wir können uns darauf einigen, egal, welchen Hintergrund wir haben. Alles, was Menschenrechte gefährdet, für egal wen, sollte unsere gemeinsame Toleranzgrenze sein. Wo sie genau und im Detail verläuft, müssen wir gemeinsam aushandeln. Das ist oft mühsam, aber es ist die Mühe wert. Und so hängen für mich auch der Tag für die Toleranz und der Tag für die Volkstrauer zusammen: Toleranz und Menschenwürde sollen wir so stark machen, dass wir keine neuen Opfer von Krieg und Gewalt beklagen müssen. Die Opfer von damals sind uns Mahnung – zu mehr Toleranz und Menschenwürde in unserem Leben heute.