Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist
Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist. Dieser Satz steht in der Chronik unseres Dorfes über Menschen, die von hier ausgewandert sind. Das war vor gut einhundertfünfzig Jahren. Von der mühsamen und ärmlichen Landwirtschaft im Vogelsberg konnten sich damals nicht mehr alle ernähren. Ungünstiges Wetter brachte Hungerjahre für die Menschen. Es soll einen sogenannten Hungerpfennig aus dem Jahre 1848 geben. Der liegt in irgendeinem Heimatmuseum und erinnert an jene Zeit des Hungers, der Armut und der Auswanderung.
Das Dorf Freienseen, in dem ich jetzt lebe, hat damals fast vierzig Prozent seiner Bevölkerung durch Auswanderung verloren. Von zwölfhundert Einwohnern wanderten in wenigen Jahren fast vierhundert aus – die meisten nach Amerika, andere nach Russland, ein paar nach Paris. Und dann hat derjenige, der über die Geschichte der Auswanderung die Chronik geschrieben hat, diesen Satz formuliert, vielleicht auch zitiert.
Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist. Ist das nur so ein verklärender Appell an Auswanderer: Vergesst die alte Heimat nicht!? Oder ist es eine schöne Redewendung, von der aber niemand mehr weiß woher sie kommt und was sie einmal besagte? In einer Chronik macht sie sich gut. Für mich liegt in diesem Satz eine wichtige Erkenntnis, ich könnte auch sagen: eine Lebenswahrheit. Die habe ich selber erfahren.
Und das kam so: Unsere Tochter hatte meiner Frau und mir im vorigen Jahr ein besonderes Weihnachtsgeschenk gemacht. Es war eine Landkarte vom Wartheland. In der Karte ist die Gegend um die polnische Großstadt Posen entlang des Flusses Warthe skizziert.
Dort bin ich im Jahr 1942 geboren und habe dort auch bis 1945 gelebt. Dann flüchtete meine Familie vor der anrückenden Roten Armee. Posen, meine Geburtsstadt wurde am 18.01.1945 zur Festung erklärt. Das hat die deutsche Wehrmacht getan. Die war in jenem elenden Krieg längst auf dem Rückzug aus Russland, durch Polen, nach Deutschland. Auf diesem Rückzug wurden Städte zu Festungen erklärt. Sie sollten Bollwerke des Widerstandes gegen die anrückenden Feinde sein. Das bedeutete für die Bevölkerung: Es mussten in vierundzwanzig Stunden alle Zivilisten die Stadt und die Gegend rundherum verlassen. Millionen Menschen waren damals auf der Flucht. Das ist genau siebenundsechzig Jahre her. Ich war an dem Ort meiner Geburt und frühen Kindheit seitdem nicht mehr gewesen.
Das wusste unsere Tochter. Als sie mir die Karte vom Wartheland geschenkt hat, hat sie mir damit die Frage gestellt,: Willst du nicht doch einmal dorthin fahren, wo du geboren bist und die ersten Jahre deiner Kindheit verbracht hast. Ich hab es verstanden, und ich bin dort hingefahren, wo meine Lebensgeschichte begonnen hat.
Meine Frau und ich haben uns letztes Jahr auf die Reise gemacht – aus unserem Dorf im Vogelsberg durch den Thüringer Wald, an der Wartburg vorbei nach Berlin. Dort ist meine Cousine zugestiegen. Sie ist sieben Jahre älter als ich und kann sich an unsere Kindheit in Polen noch besser erinnern. Die Fahrt ging dann weiter von Berlin über Frankfurt/Oder auf der Transitstrecke Posen, Warschau, Moskau.
Auf der Karte vom Wartheland hatten wir das Dorf meiner Kindheit mit einem Filzstift markiert. Kuschlino heißt es heute. Es liegt ungefähr vierzig Kilometer von Posen entfernt. Die Fahrt zu dem Dorf war mühsam. Abseits der großen Transitstrecke sind die Straßen oft wie Feldwege. Hinweisschilder zu den Dörfern, deren Namen meiner Cousine alle geläufig waren, sind schwer zu erkennen. Manche haben wir übersehen und erst nach langem Suchen entdeckt. Doch wir haben es schließlich gefunden, das Dorf Kuschlin. Unser Auto haben wir neben der Kirche geparkt. Die Kirche habe ich sofort erkannt. In der Bibel, die ich von der Großmutter geerbt habe, liegt eine Ansichtskarte von dieser Kirche.
Direkt daneben liegt der Bauernhof, den meine Großeltern einst bewirtschaftet haben und auf dem ich als kleiner Junge oft gewesen bin.
Erinnern kann ich mich daran nicht. Ich war noch zu klein als wir fort mussten.
Doch in meiner Fantasie hatte ich eine Vorstellung von diesem Hof und von dem Dorf, aus dem wir stammen. Ein paar Bilder, die den Krieg überstanden haben und vor allem die Geschichten, die meine Mutter vom Leben in der „alten Heimat“ erzählte, haben in mir ein Bild von dem Hof geprägt und davon wie ich mir das Leben auf ihm vorgestellt habe.
Doch das Bild in mir war aber ganz anders als die Wirklichkeit, die uns begegnet ist.
Ungefähr hundert Meter von der alten Dorfkirche entfernt liegt ein Blockhaus einen Meter tiefer als die holprige Straße. Darin hat meine Familie einst gelebt. Das Haus ist irgendwann aus Baumstämmen gebaut worden, ein sogenanntes Balkenblockhaus. Es scheint unverändert zu sein. Man sieht ihm an, dass seit unserer Flucht nicht viel daran gemacht worden ist. Von der Straße aus konnten wir durch das geöffnete Fenster ins Innere sehen. Ein Mann ging ein paar Mal hin und her innen drin. Wir haben ihn nicht angesprochen. Wir können kein Polnisch. Wir waren schon auffällig genug mit unserem deutschen Autokennzeichen und unseren neugierigen Blicken. Wir haben das Haus nicht von innen gesehen.
Aber meine Cousine hat es beschrieben, wie sie es in Erinnerung hat. In der großen Stube spielte sich das Leben ab, hat sie erzählt. Mitten drin stand ein großer Kachelofen, der das ganze Haus beheizt hat. Der steht bis heute da; wir konnten ihn durchs Fenster sehen. Neben der großen Stube gab es eine kleinere; durch die ging man in die Futterküche und dann hinaus in Ställe und Scheune.
Im ersten Stock, direkt unter dem Dach hat es zwei, vielleicht auch drei Zimmer gegeben. Eins war das Schlafzimmer der Eltern, das andere das für Kinder. Wahrscheinlich waren die ab einem bestimmten Alter in Jungen und Mädchen getrennt.
In diesem Balkenblockhaus hatten sie also gelebt, meine Großeltern, ihre sechs Kinder und ich in den ersten Jahren meines Lebens. Ich hatte mir das alles viel größer vorgestellt, viel geräumiger und komfortabler, einen richtig großen Bauernhof. Ich war enttäuscht. Das hat meine Frau bemerkt und mir hinterher auch gesagt.
Beim Anblick des Blockhauses wurde mir klar wie einfach und bescheiden meine Vorfahren gelebt haben und aus welchen Verhältnissen und Lebensumständen ich komme. Selbst wenn ich mich an die frühe Kindheit dort nicht mehr erinnern kann, liegen darin für meine Lebensgeschichte die Wurzeln, aus denen ich Kraft zog und die mich bis heute tragen. Seine Wurzeln darf man nicht leugnen oder vergessen, nicht abtun oder überhöhen. Man muss sie wahrnehmen. Auf einmal verstand ich den Satz: Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist.
MUSIK
Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist.
Mich hat dieser Satz auf unserer Fahrt begleitet. Irgendwie hatte meine Tochter Recht als sie sagte: Fahr doch mal hin, wo du geboren bist. Schau dir an, woher du kommst. Könnte doch sein, dass du da die Wurzeln deiner eigenen Lebensgeschichte erkennst und manches besser verstehst. So war es auch.
Nachdem wir den Hof gesehen haben, auf dem ich als kleiner Junge gespielt hatte und das ärmliche Dorf rundherum, sind wir weitergefahren nach Posen. Auf der Fahrt hat meine Cousine aus der Familienchronik vorgelesen. Die hat einer aus unserer Familie in den letzten Jahren geschrieben. Darin steht, dass meine Vorfahren Hugenotten waren. Die waren wegen ihres evangelischen Glaubens in Frankreich verfolgt worden. Das war im 17. Jahrhundert. Sie sind ausgewandert nach Belgien, dann ins westfälische Münsterland. Von dort sind sie vor ungefähr zweihundertfünfzig Jahren ins Wartheland gekommen.
Der preußische König Friedrich der Große hatte damals Bauern angeworben. Sie sollten die versumpften Flussebenen von Oder und Warthe urbar machen, damit dort Menschen und Tiere leben konnten. Er versprach ihnen, dass sie weder Steuern zahlen müssten, noch Wehrdienst leisten. Das Stück Land, das er ihnen gab, sollten sie selber bebauen, sodass es Kulturland würde.
So haben jene ersten Siedler die Bäume in den Auenwäldern gefällt, daraus die Balkenblockhäuser gebaut und darin gelebt.
Das Haus meiner Kindheit ist eines der letzten vier, die es davon in diesem Dorfe noch gibt.
Und dann habe ich gedacht: Wie, wenn ich mit meinen Vorfahren reden könnte? Wie, wenn ich sie fragen könnte, wie das Leben für sie war bei der ersten Besiedlung mit all ihren Gefahren und Mühen.
Wie, wenn ich die Generationen danach fragen könnte, wie das Leben für sie war im schon bestellten Haus und Hof, im Dorf und in der Gegend, die ihnen zur Heimat geworden war. Würden sie in ihrem Leben alles wieder so machen oder ganz anders? Was wäre, wenn es den zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte und wir nicht aus unserer Heimat hätten fliehen müssen.
Auf solche Gedanken und Fragen würde meine Großmutter, von der ich die Bibel geerbt habe, sagen: Alles ist Gnade. Sie glaubte an Gottes gnädiges Geleit sowohl für unsere Vorfahren, die einst im Wartheland siedelten, wie für uns auf der Flucht. Lass dir an Gottes Gnade genügen, steht in der Bibel, Gnade ist genug.
MUSIK
Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist?!
Oder anders gesagt: Wer vergisst woher er kommt, es leugnet oder nicht wahrhaben will, der verliert sich selbst, einen Teil seiner Identität.
Auswanderer haben deshalb zu allen Zeiten ihre Geschichten und Lieder aus der alten Heimat mitgenommen. Sie haben die mitgebrachte Mundart gepflegt, ihre Bräuche und Feste gefeiert und sie bewahrt. So haben sie sich ihrer Herkunft erinnert und ihrer Identität vergewissert.
Wenn man in eine „neue“ Welt einwandert, muss man sich der „alten“ Welt erinnern, aus der man kommt. Sonst verliert man seine Wurzeln und seine Geschichte. Und der Mensch ist nun einmal ein geschichtliches Wesen.
Man kann einen Ort, an dem man gelebt hat und die damit verbundene Lebensgeschichte nicht ablegen wie einen Mantel. Man kann Wohnort und Lebensabschnitte nicht einfach wechseln wie Kleidungsstücke. An jedem Ort und in jedem Lebensabschnitt liegt ein Stück Identität und Selbstverständnis, Lebensgeschichte, die uns geprägt hat.
Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist.
Ich höre in diesem Satz den Hinweis bescheiden zu sein: Bleib auf dem Teppich, tu nicht so als wärst du etwas Besseres. Sieh doch woher du kommst und überhebe dich nicht. Mach dich nicht größer als du bist. Im Vogelsberg nennt man Leute, die sich größer machen als sie sind Überzwerge. Das Wort sagt es genau. Wer seine eigene Herkunft leugnet und sich hervortut und groß macht, wer sich wichtig vorkommt und aufbläst, ist trotzdem kein Riese – er bleibt ein Überzwerg. Und davon hätten wir schon genug, sagen die Leute.
An dem Tag darauf – nachdem ich den Ort meiner Kindheit gesehen hatte – sind wir wieder zurück gereist und haben in Berlin Station gemacht. Dort besuchten meine Frau und ich das Charlottenburger Schloss. Bei der Führung durch die prächtigen Gebäude wurde uns erzählt, wann sie entstanden sind und wie preußische Könige, Prinzessinnen und Prinzen darin gelebt haben – wohlhabend, ausschweifend, komfortabel oft auch auf Kosten ihrer Untertanen, natürlich auch unter Mühen und Zwängen ihrer Welt.
Wie unterschiedlich war dieses prunkvolle Leben in einem Schloss gegenüber dem, das ich einen Tag vorher in einem ärmlichen Dorf in Polen gesehen hatte, in dem meine Vorfahren bescheiden und einfach gelebt haben. Und auf einmal dachte ich: Es ist gut so, dass ich von wandernden Hugenotten und einfachen Bauern abstamme und nicht aus einem Königshaus komme. Ich bin damit einverstanden. Das kann ich natürlich nur für mich sagen. Jeder muss das für sich tun. Jeder Mensch muss sehen ob und wie er mit seiner Lebensgeschichte einverstanden ist. Es geht mir nicht darum reich gegen arm oder Schloss gegen Bauernhof auszuspielen. Man kann ja nichts dafür wenn man in Reichtum oder Armut, in einer Villa oder auf der Flucht geboren wurde. Es geht darum, dass ich einverstanden bin damit, woher ich komme, also mit meinen Wurzeln und wie ich bis hierher gelebt habe, also mit meiner Lebensgeschichte.
Mit sich selbst und seinem Leben einverstanden zu sein ist eine Stärke. Die trägt sogar dann, wenn man an seine Grenzen stößt und sich selber ganz schwach fühlt.
Diese Erfahrung wird in einem Text der Bibel beschrieben. Der steht im zweiten Korintherbrief im zwölften Kapitel.
Der Apostel Paulus hat die Sätze einst an die Christengemeinde in der Hafenstadt Korinth geschrieben. Paulus wollte hoch hinaus; er wollte die Botschaft von Christus überall in der Welt von damals, rund um das Mittelmeer verbreiten. Da hat er auch mehrere Christen-gemeinden gegründet. Doch er stieß an seine Grenzen. Eine schwere Krankheit machte ihn körperlich kaputt. Und dann sperrten sie ihn ein. Die Mächtigen der damaligen Zeit warfen ihn ins Gefängnis, weil ihnen seine Botschaft nicht gepasst hat. Krank und schwach, gefesselt und ohnmächtig lag er im Gefängnis.
Aus dieser Situation schrie er zu Gott: Mach mich gesund und stark, wieder frei und erfolgreich. Lass mich so sein wie ich mir das vorgestellt habe: Die Welt bereisen und die Menschen begeistern für deine Botschaft, oh Gott.
Und Gott antwortet: Lass dir an meiner Gnade genügen. Meine Kraft ist noch in deiner Schwachheit mächtig. Gottes Gnade ist genug gerade für Menschen, die an ihre Grenzen stoßen und ihre Ohnmacht spüren. Die Gnadenzusage Gottes gilt: Du bist – trotz allem – ein wertvoller Mensch, mein Ebenbild. Ich bin bei dir. Wer aus der Gnade Gottes lebt, fühlt sich geborgen. Dieses Gefühl der Geborgenheit, man kann es auch Vertrauen nennen, lässt mich einverstanden sein mit meinem Leben – sowohl mit meinen Wurzeln, woher ich komme als auch mit meiner Geschichte, wie ich geworden bin.
Darin hat mich diese Reise bestärkt, die mich an den Ort meiner Kindheit geführt und mir den Anfang meiner Lebensgeschichte gezeigt hat. Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist. Man muss wissen, dass man von der Gnade lebt.