Hoffnung für Osteuropa
Mit dem heutigen Sonntag Invokavit beginnt in den christlichen Kirchen die Passionszeit. Bis zum Karfreitag, dem Tag der Kreuzigung Jesu von Nazareth, sind es noch 40 Tage. Das Evangelium dieses Sonntages erzählt von den vierzig Tagen, die Jesus in der Wüste zubrachte, erzählt von den Versuchungen, denen er in dieser Zeit ausgesetzt war. Damit ist der Ton des Sonntages angeschlagen: Es gilt, Versuchungen standzuhalten, in den Anfechtungen des Lebens zu bestehen. Dies ist möglich in der Gewissheit, die der Wochenspruch dieser Woche so formuliert (1. Joh. 3,8): Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.“
In dem für diesen Sonntag vorgesehenen biblischen Text erzählt der Apostel Paulus in einer langen, zumindest in Teilen sehr erfahrungsgesättigten Aufzählung von solchen Versuchungen und wirbt bei den Empfängern seines Schreibens um ähnliche Bewährung im Glauben. Immer geht es offenbar darum, der Berufung als Christin oder Christ gemäß zu leben. Da hat Paulus nun einiges aufzubieten. Aber hören wir zunächst seinen Text, ein Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief, Kapitel 6, die Verse 1-10:
Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt! Denn er spricht (Jes 49,8): „Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.“ Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsal, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.
MUSIK
Was für ein Text! Wir können ihn nicht in seiner ganzen Vielfalt der Aussagen bedenken. Paulus schreibt als Mitarbeiter, genauer als Mitarbeiter Gottes (1. Kor. 3,9), als Diener, genauer als Diakon Gottes (V.4). Darum geht es: sich zu erinnern, dass wir die Gnade Gottes empfangen haben und dies soll nicht vergeblich geschehen sein. Da klingt die Jahreslosung an: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Dies gilt es heute zu leben, inmitten unserer Welt und unseren Ängsten und Bedrängnissen, in unseren Anfechtungen und Kümmernissen. Ich will einen Aspekt herausgreifen und diesen dann mit einem weiteren Schwerpunkt des heutigen Sonntages verknüpfen. Wir leben im Vergleich zu den Lebensbedingungen von Menschen in anderen Ländern trotz Wirtschaftsund Finanzkrise in einem sehr reichen Land. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und deutlich niedriger als in vielen anderen Ländern. Das Gesundheitssystem ist gut, auch wenn die dringend notwenige Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs immer noch auf sich warten lässt.
Und doch ist da bei vielen das Gefühl einer Bedrohung unseres Wohlstandes; die Bereitschaft zur Solidarität, zum Teilen lässt nach. Wir versuchen festzuhalten, was wir haben. Nehmen wir dabei die gegenseitigen Abhängigkeiten wahr, dass unser Reichtum etwas mit der Armut anderer zu tun hat? Liegt im Wegsehen und Verdrängen solcher Zusammenhänge eine Versuchung für uns? Es geht um die Erde als Teil der Schöpfung Gottes, es geht um eine Gemeinschaft der Verschiedenen weltweit. Und da wir nun einmal Teil der reichen Welt sind, geht es um unsere Aufmerksamkeit für die Menschen, die nicht dieses unverdiente Glück haben. Die unter politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen leben und leiden, die sie nicht verursacht haben und die auf Hilfe, auf unsere Solidarität angewiesen sind.
Dafür steht im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland die Aktion Hoffnung für Osteuropa, die alljährlich am Sonntag Invokavit eröffnet wird, in diesem Jahr zum neunzehnten Mal. Bei uns wie auch in anderen Landeskirchen finden heute Eröffnungsfeiern statt, in vielen Gemeinden vor Ort, aber auch zentral wie in Kurhessen-Waldeck, in diesem Jahr in Spangenberg.
Begonnen wurde mit dieser Aktion 1994, also wenige Jahre nach der Wende, nach dem Zusammenbruch der DDR, als deutlich wurde, wie sehr Hilfe nötig sein würde im nun zugänglich gewordenen Osten Mittel- und Osteuropas. Seitdem bildet die Aktion Hoffnung für Osteuropa neben BROT FÜR DIE WELT die zweite große Hilfsaktion der Evangelischen Christen in Deutschland. Die eine wendet sich insbesondere der Not der Menschen im Süden zu, die andere versucht Hilfe und Unterstützung in den Ländern des ehemaligen kommunistischen Ostblocks zu leisten. Das Besondere unserer kurhessischen Aktion Hoffnung für Osteuropa ist, dass es um vernetzte Hilfen geht. Fördervereine und Initiativen in unseren Gemeinden haben Kontakte geknüpft zu Gemeinden und Gruppen in den Ländern Mittel- und Osteuropas und gemeinsam tragen sie die jeweiligen Projekte vor Ort. Derzeit gibt es Projekte in Rumänien (3), in Bulgarien, in Weißrussland, in der Ukraine, in Estland. Ich möchte Ihnen drei dieser Projekte vorstellen.
MUSIK
Beispiel 1: Aufbau einer Jugendbauhütte zur Bauunterhaltung der Kirchenburgen im Bezirk Mediasch und für Jugendbegegnungen in Siebenbürgen.
Wenn Sie schon einmal in Siebenbürgen in Rumänien waren, kennen Sie die Kirchenburgen. Über 150 solcher Kirchenburgen und Wehrkirchen gibt es, ehemals geschaffen zur Verteidigung gegen die Türken und Tataren. Einige gehören mittlerweile zum Weltkulturerbe der UNESCO. Etliche befinden sich allerdings in einem schlechten baulichen Zustand und sind vom Verfall bedroht, zumal, wenn sie keine Nutzung mehr erfahren. Die Evangelische Handwerkerarbeit von Kurhessen- Waldeck war 2008 auf diese Problematik aufmerksam geworden. Es entstand die Idee, einerseits etwas zum Erhalt dieser Burgen zu tun, andererseits den vielen Jugendlichen, die ohne berufliche Qualifikation und Perspektive waren und von denen viele als unqualifizierte Saisonarbeiter insbesondere nach Deutschland abwanderten, eine Chance zu geben. Seit 2009 arbeitet nun ein Förderverein in Pretai an diesem Projekt. Zur Durchführung von Motivationskursen für Jugendliche wurde das ehemalige Pfarrhaus zur Herberge für die Lerngruppe umgebaut, die Pfarrscheune zur Ausbildungswerkstatt. In den darauffolgenden Jahren wurden Aufbaukurse durchgeführt. Mittlerweile hat sich ein Stamm von vier Kursteilnehmern gebildet, die unter Anleitung des in Hermannstadt lebenden deutschen Zimmermanns Christian Rummel das Kernpersonal für die geplante Bauhütte darstellen. 2011 kamen drei neue rumänische Anlernlinge hinzu. Jedes Jahr besuchen hessische Jugendgruppen Pretai und führen dort unter Anleitung von Herrn Rummel 2 bis 4-wöchige Workcamps durch. Auf diese Weise können Kirchenburgen vor dem weiteren Verfall gerettet werden. Andererseits bekommen rumänische Jugendliche eine qualifizierte handwerkliche Ausbildung und damit eine berufliche Perspektive im eigenen Land. Ein faszinierendes Projekt, das neben der finanziellen Unterstützung durch die Aktion Hoffnung für Osteuropa auch von dem ehrenamtlichen Engagement vieler Beteiligter aus Rumänien und Hessen lebt. Und die hessischen Jugendlichen erleben hautnah siebenbürgische Kultur und Geschichte, lernen rumänische Jugendliche kennen und schließen Freundschaften.
MUSIK
Beispiel 2: Aufbau eines Pflegefamilien-Netzes in Sofia – Bulgarien
In diesem Projekt geht es um Kinder, genauer um Kinder in Sofia in Bulgarien. Nach offiziellen Angaben lebten Ende 2009 etwa 6.200 Kinder in 112 Heimen, unter teilweise unguten Bedingungen. Es sind Vollwaisen, vor allem auch sog. Sozialwaisen, also Kinder, die von ihren Eltern aus ganz verschiedenen Gründen verlassen wurden. Im Jahre 2006 wurde dieses Projekt ins Leben gerufen. Ziel war zunächst, Heimkindern eine bessere Zukunft durch Vermittlung in Pflegefamilien zu ermöglichen. Dabei machen die Zahlen deutlich, welche Aufgabe hier zu bewältigen ist. Es gab Ende 2008 nur 148 Pflegefamilien in ganz Bulgarien. Und es gab dementsprechend nur wenige Erfahrungen mit Pflegeeltern. Es galt also, Pflegefamilien zu finden und sie zu befähigen, eine solche Aufgabe angemessen wahrnehmen zu können. Die neuen Aufgaben sind vielfältig: es gilt, für behinderte Kinder im Heim die Lebenssituation zu verbessern oder Pflegeeltern zu finden und zu begleiten. Ebenso wichtig wird es sein, Eltern mit einem behinderten Kind zu helfen, dieser besonderen Aufgabe gerecht zu werden. Voraussichtlich wird die Stiftung in diesem Zusammenhang selbst familienentlastende Dienste anbieten mit dem Ziel, dass die Kinder nicht ins Heim müssen. Neben finanzieller Unterstützung (durch die Aktion Mensch sowie durch die Aktion Hoffnung für Osteuropa) geht es um Unterstützung im medizinischen, psychologischen und pädagogischen Bereich. Dafür steht auf deutscher Seite das Kerstin-Heim Marburg mit seinem Know How sowie die Johanniter-Unfall-Hilfe als Projektpartner zur Verfügung. Die bisherigen Erfolge wiegen die organisatorischen Schwierigkeiten dieses Projekts bei weitem auf. Zu verdanken ist dies dem unermüdlichen Einsatz ehrenamtlich tätiger Personen – ich nenne stellvertretend Frau Dr. Virjinia Raynova-Schwarten, Herrn Hans Ordnung sowie Herrn Michael Krahl - , zu verdanken ist dies aber auch den Spenderinnen und Spendern, die die Aktion Hoffnung für Osteuropa instand setzen, dieses Projekt nachhaltig zu unterstützen.
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Beispiel 3: Aidsprojekt Estland
Im April 2005 schlug der Erzbischof der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche im Rahmen einer Konferenz Alarm: Estland verzeichne 2004 die höchste Rate an Neuansteckungen mit HIV in ganz Europa, gefolgt von Russland und der Ukraine. Die estnischen Behörden gingen von etwa 15.000 HIV-Infizierten aus bei einer Bevölkerung von insgesamt 1,35 Millionen, also etwa soviel wie München Einwohner hat. Die überwiegende Mehrzahl der Neuinfizierten – viele von ihnen drogenabhängig - gehöre der Altersgruppe der 15 bis 29-jährigen an. „Das ist die Zukunft eines Landes“, sagt Michael Schümers, Pfarrer in Spangenberg und Estland- Beauftragter der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. In Zusammenarbeit mit Hans Barbknecht, dem damaligen Osteuropareferenten im Diakonischen Werk, wurden Kontakte zum Theologischen Institut der Estnischen Kirche geknüpft und ein Projekt auf den Weg gebracht, das sich insbesondere der Präventionsarbeit und der Beratung Betroffener widmete. Erfahrene Klinikseelsorger und Sozialarbeiter geben ihre Erfahrungen in Fortbildungskursen an die estnischen Kolleginnen und Kollegen weiter, die so in der Lage sind, Menschen zu beraten, zu begleiten und ihrerseits wie in einem Schneeballsystem weitere Fortbildungen anzubieten. Dabei hat sich gezeigt, dass es neben aufklärender Arbeit –nur wer aufgeklärt ist, kann sich schützen - insbesondere auch auf ethische Unterrichtung ankommt. Und so sind eine Reihe von Kleinprojekten entstanden, die versuchen, Schulkinder, insbesondere solche in sozial schwierigen Verhältnissen lebende, zu erreichen, aber auch straffällig gewordene Jugendliche, junge Familien, HIV-Positive, die eine Selbsthilfegruppe gründen wollen. Die bisher durchgeführten Kurse zeigen Wirkung: die Ansteckungsgefahr wird zunehmend erkannt, die Rate der Neuinfizierungen geht zurück, das Bewusstsein für ethische Zusammenhänge steigt.
Mit unserer Taufe gehören wir zur einen, weltweiten Kirche Jesu Christi. In ihr sind die Unterschiede der Herkunft, des Standes, des Geschlechts oder was immer an Verschiedenheiten genannt werden kann, aufgehoben in dem Sinne, dass sie nicht mehr trennend sind und wir alle zu Kindern Gottes erklärt sind, zu Schwestern und Brüdern Jesu und damit untereinander. Dies ist ein herrliches Bild für eine Gemeinschaft aller Menschen. Eine Gemeinschaft der Verschiedenen, aber der untereinander Versöhnten. Die genannten und auch andere Projekte von „Hoffnung für Osteuropa“ versuchen, einen kleinen Beitrag zu leisten - aus dem Glauben derer heraus, die sich als Mitarbeiter Gottes, als Diakone Gottes verstehen, die von daher ihre Kraft, ihre Phantasie und Ausdauer beziehen. Sie sind sich gewiss, dass die Werke des Teufels zerstört sind und dass sie deshalb hoffen können auf den Erfolg ihrer Arbeit, auch wenn sie manchmal an den Widerständen zu scheitern drohen oder die Kräfte nicht auszureichen scheinen. Sie, wir alle wollen die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen und trösten uns in schweren Stunden mit der Zusage Gottes (2. Kor. 12,9): „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“.