Schau in den Spiegel
Wie oft schaue ich in einen Spiegel? Morgens sehe ich ein müdes, manchmal auch schon erstaunlich waches Gesicht. Tagsüber unterwegs, in der Stadt überall mein Spiegelbild in den Schaufenstern und Fassaden für den kurzen Blick, ob alles am rechten Platz ist. Abends zuhause wieder ein Gesicht, das schlafen möchte. Mein Anblick ist mir vertraut, der Blick in den Spiegel selbstverständlich. Der Kinderschutzbeauftragte Hossam al-Madhoun aus Gaza erzählt eine besondere Begegnung mit einem Spiegel. Er hat einen Jungen auf der Straße beobachtet, der mit einer Spiegelscherbe Geld verdient. In Gaza gibt es nicht mehr viele intakte Spiegel. Die meisten Menschen haben ihre Wohnungen verloren, wohnen in Trümmern oder in Zelten. An Spiegel hat bei der Flucht niemand gedacht. „Schau dich an für einen Shekel!“
Ein Spiegel als Lebensgrundlage
Der Junge hält den Vorübergehenden die kleine Spiegelscherbe hin. Für umgerechnet 25 Cent können sie in ihr Gesicht zu schauen. Er lebt davon, etwas Besonderes anzubieten. Spiegel kann man nicht mehr kaufen. Er sagt, er komme auf umgerechnet 8 Euro am Tag. Dann zeigt der Junge auf einen Mann, der gerade weggeht. „Er hat in den Spiegel geschaut und hat ihn mir zurückgegeben. Ohne zu bezahlen. Aber ich gehe nicht hinter ihm her, er hat eine frische Narbe in seinem Gesicht, bis runter auf die Brust, sehr hässlich, schlecht verheilt. Wahrscheinlich von einem Bombensplitter. Er hat sich sein Gesicht lange angeschaut, mir die Scherbe zurückgegeben. Ich habe gesehen, dass er weint. Ich hab ihn gehen lassen“ erzählt der Junge.
Der Spiegel zeigt mehr als das Gesicht – ein Blick in die Seele
Ich stelle mir vor, ich sehe mein Gesicht nach Wochen das erste Mal wieder im Spiegel. Ich hätte Drohnen- und Bombenangriffe überlebt, müsste zum Schlafen in ein Zelt. Ich würde in ein vom Hunger gezeichnetes, verbittertes Gesicht sehen. Ein Gesicht, das Trauer trägt um Menschen, die in den Trümmern umgekommen sind. Ein Gesicht, dem ich die Gewalt ansehe, die Menschen angetan wird. Und gleichzeitig sehe ich im Spiegelbild, egal ob auf der Straße in einer Spiegelscherbe oder im heimischen Badezimmer immer einen Menschen, ein Ebenbild Gottes.