hr1 ZUSPRUCH
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Kristen, Dr. Peter

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Studienleiter, Religionspädagogisches Institut Darmstadt

Wertschätzungskiste

Was Wertschätzung ist, das ist nur mühsam in Worten zu sagen. Wer diese besondere Haltung des Herzens lernen will, muss sie am besten erleben: Mit meinen Schülerinnen und Schülern hab ich das probiert. Ich bitte sie: Gebt in der Pause zwischen den beiden Stunden heimlich eine Kleinigkeit ab, die Ihr so bei euch habt: einen Schlüssel, einen Glücksbringer, Portemonnaie, Handy, einen Haargummi.

Ihren Gegenstand packen sie in Seidenpapier ein und legen ihn in eine Holzkiste. Dann sitzen wir um die Kiste herum und packen nacheinander behutsam und wertschätzend aus. Wir gehen mit dem, was da von anderen sichtbar wird, respektvoll um. Wir geben zu erkennen, dass wir diesen Wert zu schätzen und zu würdigen wissen. Das ist die wertschätzende Grundhaltung, die auch in hilfreichen Gesprächen wichtig ist. Eher nebenbei versuchen wir, zu erraten, wem die Gegenstände gehören.

Tim nimmt als erster ein Päckchen aus der Kiste. Er öffnet vorsichtig das Seidenpapier. „Hm, das fühlt sich hart an, es ist rund, so wie eine Münze. Ja“, sagt er und hält sie hoch. „Eine kanadischer Dollar. Ich hab keine Ahnung, wem der gehören könnte.“ Er legt ihn schließlich vor Anne, weil er weiß, dass die schon mal in Kanada war. Die verzieht keine Miene, um die Spannung zu erhalten. Dann geht Jana zur Kiste. Ihr Seidenpapierpäckchen ist etwas größer. „Fühlt sich an wie ein Portemonnaie“, sagt sie beim Auspacken.

Stimmt. Sie dreht es hin und her, kann aber keinen Hinweis auf den Besitzer finden. „Naja, lila“, sagt sie, „eher ein Mädchen“. Sie überlegt, ob sie den Klettverschluss aufmachen und nach einem Bild oder Ausweis suchen soll. Wäre das wertschätzend? „Nein, das würde ich auch nicht wollen“, sagt sie „vielleicht könnte das peinlich sein.“ Sie legt es vor Tabea, die es mit einem Pokerface quittiert.

Als die Runde zu Ende ist, stellt sich heraus, dass der kanadische Dollar Fabian gehört, der ihn von seinem Onkel bekommen hat und dass das lila Portemonnaie wirklich Tabeas war. Sie war froh, dass sie es ungeöffnet zurückbekommt. Ich hoffe, dass meine Schülerinnen und Schüler gespürt haben, wie gut sich Wertschätzung anfühlt, diese Haltung des Herzens, die ganz am Anderen interessiert ist. Vielleicht sind sie ermutigt worden, mehr auf diese Nahrung für die Seele zu achten.