hr1 ZUSPRUCH
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Vorländer, Martin

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Der Mensch dem Menschen ein Wolf?

Endlose Schlange vor der Passkontrolle im Transitbereich auf einem der großen Umsteige-Flughäfen in Europa. Urlauber, Touristen, Geschäftsleute aus allen Teilen der Welt quetschen sich in die Absperrungen der Warteschlange. Alle wollen nur eins: Möglichst schnell vorwärts kommen. Sie rücken einander auf die Pelle, sie schieben, sie nutzen  jede freie Lücke, um ein paar Zentimeter weiter nach vorne zu kommen. Die Stimmung ist gereizt.

Ein Ehepaar drängelt sich durch die Wartenden. Der Mann prescht einfach vor. Die Frau murmelt bei jedem, den sie überholt, ein paar Worte der Entschuldigung. „He!“, brüllt einer, an dem sie sich gerade vorbeidrückt. „Wir warten alle! Hinten anstellen!“ „Unser Flug geht gleich“, sagt die Frau, lächelt unsicher und hält ihr Flugticket zum Beweis hoch. Ihr Ehemann fährt dazwischen und schreit den Wartenden an: „Lass meine Frau in Frieden!“ Der Mensch in der Schlange zetert weiter. Da holt der Ehemann aus und schlägt  ihm seine Jacke über den Kopf. Der andere haut zurück. Die Leute daneben geraten in Panik. Drei Polizisten gehen dazwischen und bringen die Streithähne auseinander.

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf und es herrscht Krieg aller gegen alle, wenn keine höhere Gewalt eingreift. Das meinte der englische Philosoph Thomas Hobbes im siebzehnten Jahrhundert. Als er das schrieb, stand er unter dem Eindruck des Bürgerkriegs in England. Scheint so, als seien wir nicht viel weiter gekommen. Es braucht nicht viel und die Aggression des einen gegen den anderen entlädt sich. Schon in einer Warteschlange am Flughafen.

Die Bibel ist nicht weniger realistisch: Der Mensch ist in Gefahr, sich zum Bösen hinreißen zu lassen. Das hat schon bei Adam und Eva angefangen. Weil einer dem anderen nichts gönnt, entsteht Gewalt. Die Bibel beschreibt es als ein Wunder, wenn Menschen Aggression überwinden und zum Frieden finden.

In der Warteschlange am Flughafen haben sich die Gemüter inzwischen beruhigt. Nun haben die vielen hundert Leute ein gemeinsames Thema. In allen Sprachen der Erde. Wo vorher jeder stumm vor sich hingeschoben hat, gibt es  jetzt rege Gespräche. Auch mit völlig fremden Menschen. Die Stimmung ist besser. Vielleicht - auch deswegen, weil jeder froh ist, dass er die eigenen Aggressionen im Zaum gehalten hat...