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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Kleine Lehren aus der Geschichte

Kleine Lehren aus der Geschichte

Mit zehn Jahren hört Inge von ihrer Mutter den Satz: „Mein Kind, du bist Jüdin!“ Ich wusste gar nicht, was das ist: Jüdin, sagt Inge Deutschkron heute, achtzig Jahre später. Ich ahnte aber, erzählt sie diese Woche im Bundestag: Das bedeutet nichts Gutes, ich bin anders. Sie sollte Recht behalten. „Mein Kind, du bist Jüdin!“ - damit fing das Unheil für Ihre Familie und Millionen Juden an. Inge und ihre Mutter überlebten in Berlin, weil sie von tapferen Menschen jahrelang versteckt wurden. Ihre Onkel und Tanten überlebten nicht. Getan hatten sie nichts, sie waren einfach Juden. Und was hat das alles mit mir zu tun?

Sehr viel, wenn ich will. Ich lerne, dass auch großes Unheil manchmal klein beginnt, beinahe harmlos. Und ich einen Menschen nie in eine Ecke stecken darf. „Die Deutschen“, „die Holländer“, „die Ausländer“ – Sätze, die so beginnen, sind immer falsch. Schubladen sind gefährlich und tun weh, wenn Menschen nicht mehr herauskommen. Jede Verallgemeinerung ist ein Unglück und wird zum Unheil, wenn jemand sie auszunutzen weiß. Und noch etwas lerne ich: Wie gut es ist, wenn nicht zu einfach gedacht wird. Bequem denken ist selten richtig. Dafür anmaßend. Wirkliches Nachdenken dagegen ist anstrengend. Die Welt und die Menschen sind niemals schwarz/weiß oder viereckig, sondern vielgestaltig, bisweilen krumm und windschief, dabei auch schön. Eben wie Sie und ich. Und alle anderen. Die einfache Welt der Nationalsozialisten war und ist bequem und gefährlich. Damals hinterließen sie unserem Land nur Ruinen und Tote.

Ein paar Nachdenkliche gab es aber doch. Die versteckten Inge und ihre Mutter, verschafften ihnen Essen und Trinken. Mit Gottes Hilfe. Manchmal unter Lebensgefahr. Von ihnen lerne ich, dass man sich manchmal wehren kann. Am besten, indem man beim falschem Zeugnis und flachem Gerede über andere gar nicht erst mitmacht und sofort widerspricht.