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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Gerechtigkeitssinn

Gerechtigkeitssinn

Es gibt Menschen, die haben einen großen Gerechtigkeitssinn. Mir wurde das auch einmal gesagt: Du hast einen großen Gerechtigkeitssinn. Darüber musste ich nachdenken. Wie war das gemeint? Das klingt zunächst nach Anerkennung und Bewunderung. Ich werde wahrgenommen als jemand, der einen Blick dafür hat, was gerecht und was ungerecht ist. Einer, der zwischen richtig und falsch zu urteilen vermag und das auch klar benennt. Vielleicht sogar gegen das Unrecht kämpft und sich für die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit einsetzt – nicht nur mit Worten.

„Du hast einen großen Gerechtigkeitssinn.“ Was erst einmal gut klingt, wirft aber auch Fragen auf: Wer sagt, was richtig und falsch, was gut und böse, was gerecht und ungerecht ist? Und woher weiß ich das? Manche Dinge können offensichtlich ungerecht und falsch sein. Da sollte ich auch nicht wegsehen und schweigen. Da ist es unter Umständen gefordert, die Stimme zu erheben. Aber vieles lässt sich nicht in schwarz und weiß einteilen. Es gibt auch etwas dazwischen. Am ehesten erkenne ich das, wenn ich auf mein eigenes Leben sehe. Da ist auch nicht alles gut, aber auch nicht alles schlecht. Für manche Entscheidungen, die ich treffe, gibt es gute Gründe, die andere möglicherweise nicht kennen. Darum werden meine Entscheidungen von anderen auch nicht immer verstanden. Ich habe auch nicht immer die Möglichkeit, mich zu erklären. Gerade dann kann es sehr verletzend sein, vorschnell verurteilt oder sogar endgültig in eine Schublade gesteckt zu werden.

Gerechtigkeitssinn ist wohl gut. Es ist wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, was richtig und falsch, was gut und böse ist. Aber wo mein Gerechtigkeitssinn zu groß wird, so dass nur noch meine Richtigkeiten gelten, die ich als Maßstab an andere anlege, kann er das Leben und das Miteinander schwer machen.

Jesus sagt: Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Daran möchte ich heute denken, wenn ich wieder mal geneigt bin, vorschnell für mich ein Urteil zu fällen. Ich denke, das wäre gut und richtig - das wäre gerecht.