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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Die Buchstaben im Herzen

Die Buchstaben im Herzen

Im Auto vor mir sitzt eine junge Dame. Hinten am Auto kleben fünf Buchstaben aus Kunststoff, richtig silbern und vornehm. Das Wort heißt Jesus. Jeder soll wissen, wie gläubig die junge Dame ist. Sie will ihren Glauben nicht verstecken, soll das wohl heißen. Und weil sie das nicht jedem zurufen kann, klebt sie fünf Buchstaben wie ein Ausrufungszeichen auf ihr Auto: Jesus.

An der nächsten Ampel verschwindet das Auto mit der jungen Dame nach rechts, während ich weiter geradeaus fahre. Kann man nicht leiser glauben?, frage ich mich. Warum müssen diese dicken Buchstaben mit dem Wort Jesus auf dem Auto stehen oder ein bunter Fisch am Auto kleben? Warum sollen überhaupt alle sehen, dass ein Autofahrer gläubig ist? Ich gebe zu, mir fällt keine rechte Antwort ein. Es geht doch nicht um Buchstaben oder Fische, es geht doch ums Herz, wenn man glaubt. Oder sollen am Ende gar nicht andere überzeugt werden? Will man vielleicht das eigene Herz beruhigen, wenn man das Wort Jesus auf sein Auto klebt?

Eigentlich kann man doch leise sein, wenn man von etwas überzeugt ist. Einfach leise sein und das Richtige tun - vorausgesetzt, man weiß, was das Richtige ist. Das Richtige weiß man nicht, weil man einen Fisch am Auto hat. Das Richtige weiß man nur, wenn man immer wieder neu nachdenkt. Da ist zum Beispiel dieser gute Rat, den Jesus gibt: Was ihr selbst euch von Herzen wünscht, das tut auch den anderen an - das ist schon das ganze Gesetz (Neues Testament, Matthäusevangelium Kapitel 7, Vers 12).

Das Gesetz des Herzens, könnte man sagen; selbstverständlich und doch so schwer. Das fängt schon an, wenn ich morgens muffelig bin und einsilbig: Will ich selbst muffelig und einsilbig behandelt werden? Natürlich nicht. Oder wenn ich undankbar bin und oberflächlich - will ich denn, dass die anderen zu mir undankbar sind und oberflächlich? Nein, das will ich nicht. Ich will das Gesetz des Herzens auch für mich. Dabei helfen mir keine Buchstaben am Auto, sondern nur Buchstaben im Herzen: Tu‘ dem anderen das, was du dir selbst wünschst. Und das möglichst leise, sorgfältig. Ohne viel Aufhebens.