Thomas, der Zwilling genannt wird
Ich bin Jahrgang 1960 und ich heiße mit Vornamen Thomas. Einer von unzähligen Thomassen. Die Statistik sagt, mit einer Ausnahme 1968 – da war es Stephan –; die Statistik sagt: Thomas war in Deutschland zwischen 1960 und 1969 unangefochten der beliebteste Vorname, den Eltern ihrem männlichen Nachwuchs gaben. Meine Eltern auch.
Thomas - der beliebteste Name der Sechzigerjahre
Mein Gefühl und die Statistik klaffen da übrigens auseinander. Gefühlt gab es für mich viel mehr Klause, Franks, Stefans, Michaels und Andreasse als Thomasse. Doch statistisch gesehen waren unter den Jungs, die die Kindergärten und Schulen in den sechziger und siebziger Jahren bevölkerten, die Thomasse die größte Gruppe. Inzwischen hat sich das komplett geändert. Heute heißen Babys nur noch sehr selten so. Die Statistik sagt, Thomas liegt heute auf Platz 210.
Wie aus dem Zusatznamen Thomas ein eigener Name wurde
Thomas. Bedeuten tut der Name nicht viel. Ja, eigentlich ist er gar kein richtiger Name. „Thomas“ ist ursprünglich aramäisch, der Sprache, die Jesus gesprochen hat. Und heißt auf Deutsch schlicht „Zwilling“. Eigentlich war Thomas nur ein Zusatz zu einem Namen. Man hieß also z.B. „Hans der Thomas“, was so viel hieß wie: „Hans der Zwilling“. Das war also der Hans, der einen Zwillingsbruder oder eine Zwillingsschwester hatte. So war er aber von anderen, die auch Hans hießen, besser zu unterscheiden.
Aus dem Beiwerk wurde aber ein echter Name. Vor allem weil einer, der zum engsten Kreis der Jünger um Jesus gehörte, ein Zwilling war. Dieser Mann wurde also Thomas genannt. Die Autoren des Neuen Testaments der Bibel schrieben aber auf Griechisch und konnten meist kein Aramäisch. Sie wussten nur: Einer der Jünger Jesu wurde Thomas genannt. Und er war ein Zwilling. Deshalb schrieben sie von „Thomas, der der Zwilling genannt wurde“. Das war zwar völlig doppelt gemoppelt. Doch so wurde aus Thomas ein richtiger Name.
Und darüber bin ich froh!
Thomas, der Ungläube oder der Zweifler
Allerdings hat dieser Thomas aus dem Neuen Testament auch ein zusätzliches Attribut, eine Art Beinamen, den er seit 2000 Jahren mit sich rumschleppt: Er wurde der ungläubige Thomas oder für manche auch Thomas der Zweifler. Denn der Jünger Thomas hatte schon zu Jesu Lebzeiten gern nachgefragt und Jesus um weitere Erklärung gebeten. Sein Namenszusatz „der Ungläubige“ hat er sich aber durch sein Verhalten nach Ostern eingehandelt.
Die Bibel erzählt: Nach seiner Auferstehung war Jesus den Jüngern erschienen, die sich ängstlich versteckt hielten. Thomas war bei dieser Erscheinung nicht anwesend. Als ihm die anderen begeistert davon erzählen, bezweifelt er deren Berichte und sagt: Wenn ich nicht in den Händen von Jesus die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich’s nicht glauben.
Vom Zweifler zum Glaubenden
Eine Woche später sind die Jünger wieder versammelt, diesmal ist Thomas dabei. Der auferstandene Jesus erscheint tatsächlich. Er sagt „Friede sei mit Euch!“ und wendet sich direkt an Thomas. Jesus fordert ihn auf, wirklich die Finger in seine Wunden zu legen, damit Thomas sich sehend und tastend überzeugen und endlich glauben kann. Er soll nicht länger ungläubig sein, sondern gläubig! Thomas erkennt Jesus aber schon durch seine Anrede an ihn. Und er bekennt sich zu ihm und sagt zu Jesus: „Mein Herr und mein Gott!“ Und Jesus antwortet: „Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (vgl. Johannes 20, 19-29)
Einfach nur glauben. Ist das gut?
„Selig, die nicht sehen und doch glauben.“ Was für ein unseliger, ja unsäglicher Satz! Bringt mich der Satz auf die Palme, weil ich auch Thomas heiße? Steckt auch in mir ein Zweifler? Ein ungläubiger, sogar? Was Thomas macht, ist doch genau das Richtige und einzig Wahre! Nicht alles nachplappern, nicht aufgrund von Hörensagen und weil es die anderen meinen, auch behaupten: „Jesus ist auferstanden!“
Thomas will sehen. Und noch mehr: er will auch noch fühlen, berühren. Er fragt nach, er wills genau wissen. Er glaubt den anderen nicht ungesehen alles - auch wenn es alles seine Freunde und Weggefährten sind. Diese Menschen um ihn, seine Bubble, wie das neudeutsch heißt, seine Blase, in der er sich bewegt, behauptet etwas Aufregendes und Unglaubliches. Aber Thomas lässt sich nicht davon anstecken. Er folgt ihnen nicht einfach, sondern bleibt skeptisch.
Thomas prüft alles ganz genau
Thomas will die Quelle unabhängig und selbständig überprüfen. Dafür hängt seinem Namen zwar seit 2000 Jahren an, dass er der ewige Zweifler und der Ungläubige sei. Aber ich, ich finde das wunderbar. Um es klar zu sagen, ich bin erstmal bei Thomas und nicht bei Jesus.
Wer einfach verlangt, dass man glauben soll, bereitet FakeNews, Populisten und Verschwörungserzählungen Tor und Tür! Das erleben wir ja dieser Tage, wo Präsidenten an der Macht sind, die sich für Wahrheit und Fakten kaum interessieren. Denen sollen wir auch alles glauben, ohne dass sie den geringsten Beweis vorbringen können. Fakten werden frech ignoriert und die Wahrheit zählt nicht mehr. Dabei kann jeder bald alles behaupten. Seriöse Medien werden verunglimpft und ihre Arbeit behindert. Journalisten sind plötzlich das letzte Pack, werden bespuckt und getreten. Nach heutigen Maßstäben wäre Thomas der Journalist in der Runde der Jüngerinnen und Jünger. In katholischer Tradition ist Thomas der Schutzheilige der Architekten und Bauarbeiter. Für mich wäre Thomas in erster Linie der Schutzheilige der Nachrichten-Redaktionen.
Die Erfahrung macht für Thomas den Unterschied
Thomas wollte wissen, ob Jesus wirklich auferstanden ist. Und ob der Auferstandene auch wirklich der Jesus ist, der am Kreuz gestorben ist. Deshalb will Thomas die von Nägeln durchstoßenen Handwurzeln sehen, mit denen Jesus am Kreuz hing. Und er will sie nicht nur sehen, sondern auch fühlen, seine Finger in die Wunden legen. Mich beeindruckt, dass Thomas so zeigt, wie Fakten checken geht. Er will die Fakten doppelt prüfen. Nur Sehen genügt ihm nicht. Er will es betasten. Erst dann weiß er, dass es keine optische Täuschung und kein Trick ist, dass es wahr ist. Wie Recht er doch damals schon hatte, obwohl er von unseren heutigen Schwierigkeiten mit FakeNews, DeepFakes und KI generierten Filmen und Fotos noch gar nichts wissen konnte.
Wir Menschen sind daran gewöhnt, von allen unseren Sinnen, den Augen am meisten zu vertrauen. Aber damit sind wir heutzutage sehr verletzlich, können leicht hinters Licht geführt werden. Wir glauben oft, dass ein Foto schon Beweis genug ist, dass eine Kamera „objektive“ Bilder macht. Dabei kursieren inzwischen in den sozialen Medien unendlich viele Fake-Bilder, die die Wahrheit verdrehen und als angebliche Beweise Fotos oder Filmaufnahmen zeigen von Katastrophen, Prominenten oder vermeintlichen Straftaten. Diese Fälschungen zu erkennen und offenzulegen wird immer schwieriger.
Thomas war vor zweitausend Jahren schon den entscheidenden Schritt weiter. Nicht nur einem Sinn, einer Quelle vertrauen, sondern sich so umfassend wie möglich ein Bild machen. Damit würde ich Thomas auch noch als Schutzheiligen der Kriminalkommissare, der Rechtsmediziner und Faktenchecker vorschlagen.
Kritischer Glaube statt blinder Gehorsam
Mein Namensgeber Thomas steht nicht für Unglauben, sondern Thomas steht dafür, dass Denken zum Glauben gehört. Denn als einziger der Jüngerinnen und Jünger hat er wirklich nachgedacht, was es bedeutet, wenn Jesus wirklich auferstanden ist. Weil er sich mit damit kritisch auseinandersetzt, erkennt er als erster: Wenn es wahr sein sollte, dass Jesus auferstanden ist, hätte das weitreichende Folgen. Als er dann Jesus begegnet und von der Wahrheit überzeugt ist, sagt er als erster und einziger zu Jesus: Mein Herr und mein Gott!
Thomas ist kritisch, wach, aufrecht und selbstbewusst. Immer weniger heißen heute „Thomas“, aber was wir dringend brauchen, sind nicht weniger, sondern mehr Thomasse! Und damit meine ich nicht den Namen, sondern die Haltung: sein Bemühen um Wahrheit, Vernunft und Glaube. Wenn die weiterbestehen sollen, muss jede und jeder von uns mindestens ein bisschen Thomas sein.
Verlangt Jesus wirklich, dass man glauben soll, was man wissen kann?
Jesus sagt: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Warum aber sollte Thomas glauben, was er überprüfen und also wissen konnte? Verlangt Jesus wirklich, dass man glauben soll, was man wissen kann? Das entmündigt Menschen nämlich, verhindert Aufklärung und Transparenz.
Jesus meint etwas anderes. Und in dieser Hinsicht stimmt sein Satz dann auch. Denn es gibt wesentliche Dinge, die man nicht wissen und beweisen kann. Dinge, die man nur glaubend erfahren kann. Und „glaubend erfahren“ heißt, ihnen vertrauen, sich auf sie einlassen.
Man kann nicht beweisen, ob es Gott gibt oder nicht. Man kann nicht beweisen, ob sich zwei Menschen lieben. Nicht mal innerhalb der Beziehung kann man es beweisen. Und niemand kann heute mehr beweisen, dass Jesus auferstanden ist. Jesus erscheint nicht mehr, niemand kann mehr die Finger in seine Wunden legen. Und doch kann ich den Auferstandenen erfahren, wenn ich mich auf ihn einlasse. Ihm vertraue. Glaube. Handfeste Beweise habe ich dann keine, brauche ich auch nicht. Ein erfülltes Herz reicht mir.
Man kann und soll nicht an den Fakten vorbeigehen. Wer aber meint, man könne nur das glauben, was man sieht, hat vom Leben noch nicht viel verstanden. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Geliebt zu werden und jemanden zu lieben, ist die schönste Erfahrung, die man im Leben machen kann.
Manche Dinge muss man einfach erleben
Diese und andere wesentliche Dinge kann man nicht durch ewiges Bezweifeln erfahren, man muss sich auf sie einlassen. Und dann die Erfahrung machen, dass sie wahr sind. Insofern ist der Satz Jesu richtig: „Selig, die nicht sehen und doch glauben“.
In der Bibel hat Thomas nach starken Sätzen von Jesus gern nachgefragt. Wie meinst Du das? Ich stelle mir vor, er hat das auch bei diesem getan. Und dann hätte Jesus gesagt: Ich meine:
Selig sind, die nicht glauben, was man wissen kann!
Selig sind, die glauben, was man nicht wissen kann!
Selig sind, die das eine vom anderen unterscheiden können!