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Hieke, Prof. Dr. Thomas

Eine Sendung von

Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

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Betende Hände über einer Bibel

Kein Streit um den Messias

Wann kommt der Messias? Ich weiß es nicht. Die jüdische Tradition sagt: Das ist dem Menschen verborgen. Das christliche Bekenntnis sagt: Der Messias ist Jesus. Schon beginnen die Probleme. 

Der Streit führt zu Antisemitismus

Der Streit um den „Messias“ Jesus führt zu Judenfeindlichkeit und Antisemitismus. Früh in der Geschichte fühlen sich Christinnen und Christen überlegen und verachten Jüdinnen und Juden. Diese selbst reden selten vom Messias. Und in den Zeitungen lese ich manchmal, dass wieder eine Gruppe oder eine Partei einen Menschen als Heilsbringer sieht – und der wird dann Messias genannt. Oh Gott.

Am liebsten würde ich auf den Begriff ganz verzichten, wäre da nicht diese wunderbare Musik des Oratoriums von Georg Friedrich Händel: Messiah, komponiert 1741, uraufgeführt 1742. Für viele gehört Händels Messiah zum Dezember und zur Adventszeit fest dazu. Hier kommt der Anfang der Ouvertüre: [1:02]

Musik 1: Georg Friedrich Händel, Messiah, Symphony (CD: Georg Friedrich Händel, Messiah (Oratorium), Colin Davis, London Symphony Orchestra and Chorus, Disc 1, Track 01, 0:00 bis ca. 1:52).

Eine problematische Ansicht

Messiah – das Oratorium von Georg Friedrich Händel besteht fast nur aus Bibelversen, vornehmlich aus dem Alten Testament und in der Fassung der King James Bible des 17. Jahrhunderts. Charles Jennens stellte diese Verse zusammen – mit einer problematischen Absicht: Er wollte den Juden seiner Zeit beweisen, dass Jesus der von ihnen erwartete Messias sei. 

Das ist genau das Überlegenheitsgefühl, das durch die Jahrhunderte und dann vor allem im 20. Jahrhundert so viel Leid über die Menschen des jüdischen Volks und der jüdischen Religion gebracht hat. Deswegen würde ich gern auf den Begriff Messias verzichten. 

Aber muss ich auch auf Händels Musik verzichten? Ja: Wenn ich damit selbstgewiss in der Advents- oder Weihnachtszeit in einer Kirche sitze und mir denke: Wie großartig doch der christliche Glaube an Jesus ist! Welch eine Kultur! Und wie dumm doch alle sind, die das nicht glauben wollen! Wenn mich Händels Oratorium dahin führen würde, müsste ich sofort „Stop!“ rufen.

Texte müssen doppelt erschlossen werden

So also können der Text und die Musik des „Messiah“ nicht verstanden werden. Dieser Missbrauch und dieses christliche Überlegenheitsgetue müssen ein für alle Mal ein Ende haben. Wie aber kann ich als Christ die Texte des Alten Testaments so lesen, dass ich sie den Jüdinnen und Juden nicht wegnehme? 

Texte sind keine Dosen, bei denen der Inhalt so rauskommt, wie er reingetan wurde. Texte müssen gelesen werden – und das ist eine Auslegung, und die kann unterschiedlich ausfallen. Ich muss mir als Christ die Verse aus dem Alten Testament in doppelter Weise erschließen: Erstmal muss ich verstehen, was sie in sich bedeuten – und was sie noch heute Jüdinnen und Juden sagen. 

Da sprechen die Verse keineswegs vom Messias Jesus. Das lasse ich dann so stehen. Beim zweiten Durchgang, vom Neuen Testament her, kann ich als Christ weitere Bedeutungen entdecken, die das vorherige Verständnis nicht abwerten oder annullieren. Niemals muss ich Menschen, die als Jüdinnen und Juden an Gott festhalten, von irgendetwas, schon gar nicht von Jesus überzeugen. Jüdinnen und Juden können ihre Leseweise der Hebräischen Bibel beibehalten. 

Als Christ darf ich diese Texte lesen und sie für mich etwas anders auslegen. Diese christliche Leseweise ist nicht mehr, nicht besser, nur anders. Ich probiere das mal. Der erste Gesang in Händels Oratorium ist aus dem Propheten Jesaja, Kapitel 40. Comfort Ye, My People, tröstet, tröstet mein Volk – die Schuld ist gesühnt. [2:45]

Musik 2: Georg Friedrich Händel, Messiah, Teil I,2 Comfort Ye My People (CD: s.o., Disc 1, Track 02, 3:07).

Eine lange Passage des Trostes

Was der Tenor in Händels „Messiah“ gerade auf Englisch gesungen hat, lautet in deutscher Übersetzung so: 

Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu, dass sie vollendet hat ihren Frondienst, dass gesühnt ist ihre Schuld, dass sie empfangen hat aus der Hand des Herrn Doppeltes für all ihre Sünden!Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnt den Weg des Herrn, ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott! (Jes 40,1–3)

Diese Verse stammen aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Sie eröffnen den zweiten großen Teil des Buches Jesaja mit einer langen Passage des Trostes: Das Volk Israel hat viel Schuld auf sich geladen, fremde Götter verehrt und die Armen ausgebeutet. Was daraufhin das Volk als Unheil und Untergang erfährt, deutet es als Gottes Strafe: Der Tempel und die Hauptstadt Jerusalem wurden zerstört, das Volk musste ins Exil nach Babylon. Doch nun ist die Strafe verbüßt, Gott schenkt einen neuen Anfang.

Der Trost ist in späteren Situationen wiederzufinden

Dieser Trost aus dem 6. Jahrhundert vor Christus kann auch auf spätere ähnliche Situationen angewendet werden: Nach Umkehr und Buße schenkt Gott einen neuen Anfang. Gott wendet sich dem Volk Israel neu zu – und das zu jeder Zeit. So lesen Jüdinnen und Juden bis heute diesen Text.

Für Menschen, die an Christus glauben, hat diese tröstende Zuwendung Gottes einen Namen: Jesus Christus. In ihm hat sich Gott allen Menschen helfend zugewandt: Jesus ist der Tröster und Retter. So verehren Christinnen und Christen auf der ganzen Welt ihren Herrn Jesus Christus. Das bedeutet aber keinesfalls, dass die jüdische Leseweise der Jesaja-Stelle – die ohne Jesus – irgendwie weniger wert oder gar wertlos sei. 

Gott tröstet

Menschen aus dem Judentum wie aus dem Christentum können sich an der Jesaja-Stelle und Händels Vertonung freuen. Gott wendet sich den Menschen zu: Gott tröstet und verzeiht und schenkt einen neuen Anfang. Für die Juden ohne Jesus, für die Christen durch Jesus. Die beginnende Adventszeit ist für die Christinnen und Christen eine Erinnerung, dass Gott es gut mit ihnen meint – und es immer schon mit allen Menschen gemeint hat, seit dem 6. Jahrhundert vor Christus und wahrscheinlich auch schon früher. 

Aber ist damit alles Friede, Freude, Eierkuchen? Wischt Gott einfach alles weg, was Menschen so an Bösem getan haben? Kaum. Die nächsten Zeilen in Händels Oratorium stammen aus den Prophetenschriften Haggai und Maleachi. Sie kündigen an, dass das Kommen Gottes die Welt erschüttert. In dramatischer Weise singt die Bassstimme: I will shake the heavens and the earth. [2:59]

Musik 3: Georg Friedrich Händel, Messiah, Teil I,5 Thus Saith the Lord (CD: s.o., Disc 1, Track 05 [1:30])

Der Bass in Händels „Messiah“ singt Verse aus den Prophetenschriften Haggai und Maleachi. Das Kommen Gottes erschüttert die Welt und die Nationen. Bei den Propheten heißt es: 

Denn so spricht der Herr der Heerscharen: Nur noch kurze Zeit, dann lasse ich den Himmel und die Erde, das Meer und das Festland erbeben und ich lasse alle Völker erzittern. Dann strömen die Schätze aller Völker herbei und ich erfülle dieses Haus mit Herrlichkeit, spricht der Herr der Heerscharen. (Hag 2,6–7)

Seht, ich sende meinen Boten; er soll den Weg für mich bahnen. Dann kommt plötzlich zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht, und der Bote des Bundes, den ihr herbeiwünscht. Seht, er kommt!, spricht der Herr der Heerscharen. (Mal 3,1)

Die folgende Altstimme ergänzt eine bange Frage: Wer kann die Gegenwart Gottes aushalten, wer kann da bestehen? Who may abide the day of His coming?

Musik 4: Georg Friedrich Händel, Messiah, Teil I,6 But Who May Abide, Track 06 [4:18, NUR bis 2:27!)

Gott fordert Verantwortung

Who may abide the day of His coming?, singt die Altstimme über Gottes Kommen. Auf Deutsch:

Doch wer erträgt den Tag, an dem er kommt? Wer kann bestehen, wenn er erscheint? Denn er ist wie das Feuer des Schmelzers und wie die Lauge der Walker. (Mal 3,2)

Wenn Gott kommt, ist das kein netter Besuch zum Nachmittagskaffee. Gott zieht zur Rechenschaft, fordert von den Menschen Verantwortung ein. Gott ist der gute, das Gute, die Gerechtigkeit – dazu müssen sich die Menschen verhalten. 

Wer hält das aus? Wer kann da bestehen? Bilder aus dem Handwerk werden aufgeboten: Der Silberschmelzer macht ein heißes Feuer, schmilzt das Erz, Silber und Schlacke trennen sich. Der Walker taucht die Schafwolle in eine scharfe Lauge, um sie zu waschen und rein von Schmutz zu machen und so weiterzuverarbeiten, damit sie als Filz und Kleidungsstoff dienen kann. Notwendige Prozesse – und Bilder dafür, dass das Böse aus den Menschen fortgewaschen wird und das Wertvolle zutage tritt. 

Das können jüdische wie christliche Menschen in gleicher Weise verstehen. Ein solcher Reinigungsprozess ist ständig notwendig, weil sich Menschen immer wieder ins Böse verstricken und bewusst oder unbewusst die falschen Entscheidungen treffen. 

Jesus fordert die Entscheidung für das Gute

Für Menschen, die an Christus glauben, kommt hinzu, dass sie im Neuen Testament lesen: Jesus fordert die Entscheidung für das Gute. Den Nächsten lieben, den Feind lieben, die andere Wange hinhalten, um Streit zu deeskalieren, vom Besitz den Armen geben. Die Ansprüche Jesu sind den Glaubenden bekannt. Selbst die besten Christ-Gläubigen scheitern immer wieder daran. 

Das ist nicht egal, Gott wischt das nicht einfach weg. Vor Jesus müssen glaubende Christinnen und Christen zu ihrer Verantwortung stehen. Das Händel-Oratorium und der heute beginnende Advent erinnern daran: Ich soll das eigene Handeln überdenken, soll mich besinnen auf das Gute, ich darf einen neuen Versuch zu unternehmen, diese Gute doch endlich einmal zu tun.

Und dann kommt er doch, der „Messiah“ – wenigstens in Händels Oratorium. Oder wie ist das, wenn von der Jungfrau die Rede ist, die ein Kind empfängt und einen Sohn gebiert? [2:20]

Musik 5: Georg Friedrich Händel, Messiah, Teil I,7 Behold, a virgin shall conceive (CD: s.o., Disc 1, Track 08, 0:00 bis 0:29)

Die “Jungfrau”

Die Altstimme in Händels „Messiah“ hat folgende berühmte Worte, nun in deutscher Übersetzung, gesungen:

Siehe, die Jungfrau hat empfangen, sie gebiert einen Sohn und wird ihm den Namen Immanuel geben. (Jes 7,14)

Mit der „Jungfrau“ geht das etwas zu schnell. Im hebräischen Text der Bibel steht „junge Frau“ – das ist ein Zeit-Zeichen im 8. Jahrhundert vor Christus: Der Prophet Jesaja will seinem König, den er in politischen Dingen berät, etwas erklären. Die schlimme Situation der Bedrängnis durch Feinde wird bald vorbei sein. Es wird noch so lange dauern, bis die junge Frau des Königs ihren Sohn geboren hat und der dann so etwa sieben Jahre alt sein wird. 

Das war die geschichtliche Situation, in die Jesaja von Jerusalem hineingesprochen hat – etwas poetisch verklausuliert, wie das Propheten manchmal machen. Spätere Generationen dachten sich, dass da mehr drinstecken müsste. 

Im 2. Jahrhundert vor Christus wird der Text im ägyptischen Alexandrien ins Griechische übersetzt. Es ist eine neue Zeit, vom König weiß man nichts mehr, auch nichts vom Kind – aber „Immanuel“, „Gott mit uns“, das klingt doch verheißungsvoll. Ein solches Kind muss doch etwas Besonderes sein, ein Gottessohn – und der kann nur von einer Jungfrau kommen. 

Aus der jungen Frau im Hebräischen wird im Griechischen die Jungfrau, aus dem Kind der Königin im 8. Jahrhundert der Messias Gottes im 2. Jahrhundert. Wieder 200 Jahre später liest das der Evangelist Matthäus und findet die Lösung für die Frage, wie Jesus, der Sohn Gottes, als Kind von Maria und Josef auf die Welt kommt.

Jüdinnen und Juden können weiterhin den Jesaja-Text als Verheißung hören, dass Gott mit ihnen ist, war und bleiben wird. Sie brauchen dazu die Jesus-Geschichte nicht. Der Bund mit Gott besteht, Gott steht zu den Zusagen der Hebräischen Bibel.

Jesus ist von Gott gekommen

Christinnen und Christen sehen im Immanuel-Kind einen Hinweis, dass Jesus nicht irgendein Mensch mit Wunderkräften war, sondern wirklich von Gott gekommen ist. 

Vor diesem Hintergrund ist es lächerlich, den Messias-Titel für irgendeinen Menschen, Präsidenten, Parteiboss oder sonst ein Großmaul zu verwenden. Da das aber immer wieder geschieht, will ich – wenn überhaupt – nur sehr vorsichtig vom Messias sprechen. Jedenfalls sollte dieses Wort nicht mehr zum Streit zwischen Judentum und Christentum führen.

Was beide Religionen gemeinsam haben

Gemeinsam ist beiden Religionen: Menschen setzen ihre Hoffnung auf Gott, der Hilfe und Rettung bringen wird. Diese Hoffnung auf „good tidings“, gute Nachrichten, soll nun im christlichen Advent besonders im Mittelpunkt stehen. Die Altstimme in Händels „Messiah“ kündigt das Kommen Gottes an.

Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! Sag den Städten in Juda: Siehe, da ist euer Gott. (Jes 40,9[3:17]

Musik 6: Georg Friedrich Händel, Messiah, Teil I,8 O thou that tellest (CD: s.o., Disc 1, Track 08, ca. 0:29 bis etwa 3:23, dann fade out).