hr1 SONNTAGSGEDANKEN
hr1
Flicker, Steffen

Ein Sendung von

Schulleiter der katholischen Schule Marianum Fulda und Vorsitzender des Katholikenrates im Bistum Fulda

00:00
00:00

„Ich bin durchschaut!“

Möchten Sie, dass jemand Sie durchschaut? Nicht im Sinne einer Kontaktaufnahme oder einer Dating-Agentur. Nein: Ich meine ganz und gar! Mit all Ihren Schwächen, Ihren Ängsten und all dem Versagen, was zu einem Menschen eben auch gehört?

Ich würde spontan antworten: Nein! Das kann ich eigentlich nur dann wollen, wenn mich mein Gegenüber, das mich kennt oder zu kennen glaubt, annimmt – so wie ich bin. Mit allen Unzulänglichkeiten und mit all meinen Macken, die ich habe. Tut er das nicht, möchte ich mich diesem Menschen auch nicht ganz und gar offenbaren.

Annehmen – den Anderen annehmen, so wie er ist. Das bedeutet eine hohe Toleranz. Den Anderen annehmen – ohne Vorbedingungen, ohne Abstriche. Für eine Paarbeziehung ist das im Grunde die Voraussetzung. Und wenn man ältere Ehepaare nach dem Erfolgsrezept für eine lange Ehe fragt, erhält man oft diese Antwort: Wir haben uns gegenseitig angenommen – ganz und gar.

Von einem, der angenommen wurde

Vom Angenommen-Sein lesen wir auch in der Bibel. Da gibt es die Erzählung über Zachäus, der in der Bevölkerung vollkommen unbeliebt ist. Ein hoher Zollbeamter aus Jericho. Verachtet von den Menschen, weil er Abgaben einkassierte, weil er ihnen das Geld abknöpfte – rücksichtslos.

Die Leute sind total gespannt, als Jesus zufällig Zachäus begegnet. Wie wird er mit diesem unmöglichen Menschen umgehen? Was wird er zu ihm sagen? Was wird er ihm vorwerfen? Wird er ihn womöglich bestrafen? Verdient hätte er es, denn Zachäus ist verhasst, gesellschaftlich isoliert. Damals wurden solche Zöllner von den Römern eingesetzt, um Steuern und Abgaben einzutreiben. Als Jesus die Stadt Jericho besucht, klettert Zachäus auf einen Feigenbaum, um den Einzug Jesu in die Stadt zu beobachten.

Und dann passiert etwas Überraschendes: Jesus kommt an diesem Feigenbaum vorbei, bleibt stehen, sieht Zachäus lange an und spricht ihn mit Namen an. Und mehr noch: Er bittet ihn, vom Baum herunterzukommen, denn er möchte sich mit ihm treffen.

Das versteht niemand! Jesus lässt sich auf einen solch gesellschaftlich geächteten Menschen ein und kehrt in dessen Haus ein. Ein Skandal für die Stadtbewohner! Zachäus hat betrogen, Leute übers Ohr gehauen. Und für solch einen Menschen nimmt sich Jesus Zeit.

Musik

Jesus steht für einen Perspektivwechsel

Es kommt also anders als erwartet. Jesus beschimpft Zachäus nicht. Er kritisiert ihn noch nicht einmal, sondern er kehrt die Perspektive um, indem er zu Zachäus sagt: „Ich möchte bei Dir einkehren!“

Alle, die das hören, sind verblüfft. Manche sogar entsetzt. Mit solch einem Satz hätte niemand gerechnet. „Ich komme zu Dir!“ – Das ist die Botschaft, die Jesus an den verstoßenen und unbeliebten Zöllner Zachäus sendet.

In der Bibel ist die Rede davon, dass Jesus Zachäus gezielt anschaut. Es muss wohl ein sehr eindringlicher Blick gewesen sein. Denn dieser einzigartige Blick veranlasst den Zöllner dazu, vom Baum abzusteigen und schließlich sein Leben radikal zu ändern.

Diese Zuwendung Jesu führt eine Wende im Leben dieses Gauners herbei: Schließlich beschließt Zachäus, die Hälfte seines Besitzes den Bedürftigen zu geben und ein neues Leben zu beginnen.

Ein einziger Blick ändert alles

Ich frage mich: Was muss das für ein Blick gewesen sein? Ein einziger Blick ändert alles. Es war wohl kein Blick des Vorwurfs und der Anschuldigung. Sondern vielmehr ein Blick des Zuspruchs und der Zuwendung. Ich nehme dich an, so wie du bist: ganz und gar.

Plötzlich öffnet sich dieser Mann. Und ohne dass Jesus viel sagt und fragt, ist Zachäus bereit, alles Erbeutete und Gestohlene wieder zurückzugeben - sogar „vierfach“, wie wir in der Bibel lesen.

Manchmal kann also ein einziger Augenblick das Leben verändern. So erging es auch Petrus und Paulus, dessen Festtag wir heute begehen. Petrus bricht nach seinem eigenen Scheitern wieder neu auf. Er hat Jesus verleugnet. Er hat nicht zu ihm gestanden. Aber er hat sich daraufhin nicht verkrochen und versteckt, sondern er beginnt seinen Weg neu.

Gott fängt mit uns Menschen immer wieder neu an – auch nach Brüchen, nach Scheitern und nach Fehlverhalten. In seiner Barmherzigkeit gibt er Menschen immer wieder neue Chancen, sich zum Guten hinzuwenden, weil er sie ganz und gar kennt.

Auch Paulus erfährt dies. Ursprünglich heißt er Saulus und ist ein radikaler Gegner und Bekämpfer des Christentums. Ja, er hat sich sogar zum Ziel gesetzt, die Christen konsequent zu verfolgen. Bei dieser Verfolgung ist Saulus mit seinem Pferd unterwegs nach Damaskus, als ihn plötzlich ein Lichtblitz trifft und er von seinem Pferd stürzt.

Dieser Moment verändert sein Leben grundlegend: Das so genannte „Damaskus-Erlebnis“.

Saulus verspürt neue Kraft, die sein Leben neu beginnen lässt. So tritt er in die Nachfolge Jesu. Saulus verändert auch seinen Namen und wird von Saulus zum Paulus. Als Prediger reist er von Ort zu Ort, verkündet die frohe Botschaft des Evangeliums und schreibt viele Briefe an die jungen christlichen Gemeinden. Paulus ist davon überzeugt: Christen sollen vor allem durch ihre Taten den Glauben bezeugen.

Ein entscheidender Moment kann also mein Leben verändern. Das sehen wir gleichermaßen bei Zachäus, bei Petrus und bei Paulus. So stark kann eine Begegnung oder ein Erlebnis sein. Das löst in mir Hoffnung und Perspektive aus. Wie oft beklage ich, dass sich nichts ändert? Wie oft verzweifle ich an Situationen, die ich als Stillstand empfinde.

Musik

Ich nehme Dich an, so wie Du bist

Die Wirkung eines Moments, eines Blicks unterschätze ich zu oft. Aus diesen Geschichten schöpfe ich Kraft: Es kann sich etwas verändern. Irgendwann kann so ein Augenblick eintreten, den ich nicht vermutet hätte. Ein „starker“ Moment und vielleicht ein einziger Blick.

Darauf vertraue ich – gerade in Situationen, in denen ich denke: Es gibt keinen Ausweg. Er ist alles so verfahren. Ich finde keine Lösung für ein Problem. Manchmal denke ich: Wie bin ich da nur hineingeraten? Wie komme ich aus dieser verzwickten Situation wieder heraus?

Gott ist da! Und wie bei Zachäus kommt er zu mir. „Ich möchte heute bei Dir einkehren!“ – Das war die überraschende Aussage Jesu zu dem ausgestoßenen Zachäus. Das ist auch ein Zuspruch und darin drückt sich auch ein Zutrauen aus: Ich nehme Dich an! Ich nehme Dich so an, wie Du bist – ohne Vorbedingung.

Ich bin von Gott geliebt. Und so, wie ich von Gott geliebt bin, so bin ich auch aufgefordert, andere Menschen anzunehmen. Das setzt natürlich voraus, dass ich Menschen, die mich verletzt oder enttäuscht haben, verzeihen und vergeben kann. Das kann mitunter eine gewaltige Herausforderung sein.

Gerade wenn eine Enttäuschung besonders tiefgehend war, gerade wenn mich ein Mensch tief verletzt oder gekränkt, beleidigt oder vorgeführt hat. Aber Vergeben befreit und macht mein Leben leichter.

Wenn ich einem Menschen verzeihe und vergebe, werde ich im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert. Das stellt dann auch mein soziales Umfeld fest: Du bist heute so anders. Was ist los mit Dir? Die Kraft und die Energie zur Vergebung habe ich manchmal nicht aus mir selbst heraus. Aber ich kann dabei auf Gott vertrauen. In diesem Vertrauen kann ich auch unüberwindbare Mauern übersteigen.

Mit Gott fange ich immer wieder neu an. Er nimmt mich an, so wie ich bin. Nicht im Sinne eines „Durchschaut-Seins“, sondern im Sinne eines Angenommen-Seins. Ganz und gar.