Erinnerst du dich?
Ich erinnere mich noch genau: Ich bin 8 Jahre und sitze auf den Schultern meines Vaters. Meine erste Montagsdemonstration im Herbst 1989 in Dresden. Es wird dunkel. Neben uns laufen viele andere Menschen, es ist eng, wir können nur sehr langsam gehen. Auf Papa’s Schultern habe ich einen guten Überblick. Von dort kann ich die Transparente gut sehen. Darauf lese ich: Freiheit! Und: Keine Gewalt!
Auf den Schultern meines Vater fühlte ich mich sicher
Ich erinnere mich an meine Gefühle von damals: Es war dunkel und eng. An der Hand hatte ich Angst, meine Eltern zu verlieren. Oben auf den Schultern: Da fühlte ich mich sicher. Mehr erinnere ich nicht von dieser Demo. Ich kann mich auch nicht mehr entsinnen, wie oft meine Eltern mich zu diesen Demos im Herbst 89 mitgenommen haben. Nur dieses eine Bild hat sich mir eingeprägt, ganz fest: Auf den Schultern meines Vater, mit einem Blick in die Weite.
Ein Tag voller Licht und Schatten
Das sind Erinnerungen eines Kindes. 36 Jahre ist das jetzt her. Heute am 9. November frage ich mich: Was tun wir, wenn wir uns erinnern? Und wie wirkt sich das, woran wir uns erinnern, auf unsere Zukunft aus? Der 9. November ist in Deutschland ein Tag mit bewegter Geschichte.
Der Mauerfall 1989 ist ein freudiges Ereignis. Schwerer wiegt die Erinnerung an den 9. November 1938, die Reichspogromnacht. Jüdische Geschäfte werden geplündert, Synagogen angezündet. Eine Nacht, die den Hass auf Juden und Jüdinnen in Deutschland in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar macht. Auch heute finden wieder viele Gedenkveranstaltungen statt, die daran erinnern: Nie wieder!
Erinnern bringt mich weiter
Mit dem 9. November verbindet sich noch ein drittes Datum: im Jahr 1918 wird im Zuge der Novemberrevolution erstmals die Republik Deutschland ausgerufen. Das ist der Beginn einer Zeit ohne Kaiser, der Beginn der Demokratie in Deutschland. Gedenktage, so wie heute der 9. November, sind Tage zum Innehalten. Ich knüpfe an eigene Erinnerungen an und verbinde sie mit Erinnerungen von Menschen, die vor mir gelebt haben und die nach mir kommen werden. Denn ich bin glaube: Erinnern bringt mich weiter.
Musik
Der 9. November ist in Deutschland ein Tag des Erinnerns. Als Kind des Ostens ist mir vor allem der Tag des Mauerfalls im Gedächtnis. Daran kann ich mich selbst noch sehr gut erinnern – oder vielmehr an den folgenden Tag: Als 8-Jährige kam ich morgens ganz verschlafen in die Küche und mein älterer Bruder jubelte mir zu: Die Mauer ist weg! Ich wusste gar nicht, was das bedeutet. Aber es war auf jeden Fall gut! Das sah ich auch in den Gesichtern meiner Eltern. Sie strahlten, wenn auch etwas ungläubig.
Erinnerungen an die Zeit nach dem Mauerfall
Ich erinnere mich daran, wie viele Dinge sich dann in den folgenden Wochen verändert haben: In der Schule bekamen wir ein neues Deutschbuch mit vielen bunten Bildern und Geschichten. Da ging es um Kinder, die im Park fangen spielen, nicht um Kinder, die rote Nelken verteilen. Und irgendwann begrüßten wir uns in der Klasse nicht mehr mit dem sozialistischen Gruß: „Seid bereit – immer bereit“, sondern mit einem freundlichen „Guten Morgen!“.
Meine Kinder sind jetzt in dem Alter wie ich damals, 1989. Wenn wir über diese Zeit reden, ist das für sie eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert. Verstaubt, alt – eine Zeit, in der es noch nicht mal Internet gab, von Instagram und Facebook ganz zu schweigen. Eine ganz andere Zeit.
Tage wie der 9. November bringen mich dazu, diese ganz andere Zeit an die Oberfläche zu holen. Vor meinem inneren Auge sehe ich die schwarze Baskenmütze meines Vaters und ein Meer von Menschen und Stimmen.
Wenn Erinnerung zur Geschichte wird
Wenn ich an die Reichspogromnacht denke am 9. November 1938 oder an die Ausrufung der Republik Deutschland 1918, dann funktioniert das mit der eigenen Erinnerung nicht. Es gibt keine, oder nur noch wenige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die von damals erzählen können. Manche beklagen das mit Recht und starten Projekte, die sich gegen das Vergessen stellen: da werden Stolpersteine zum Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus verlegt, Fotoausstellungen von Überlebenden des Holocaust initiiert und Diskussionen mit Zeitzeuginnen an Schulen organisiert.
Das alles trägt dazu bei, Erinnerungen an diese schlimme Zeit wach zu halten. Wir gedenken – und stehen damit auf gegen Hass und für Mitmenschlichkeit. Zeitzeugin oder Zeitzeuge sein und sich erinnern, das ist nicht einem bestimmten Personenkreis vorbehalten. Jede und jeder kann das tun. Wie das gehen kann, habe ich von meiner Nachbarin gelernt.
Musik
Eine Nachbarin hat mir ganz begeistert von einem Kurs erzählt, den sie in den vergangenen Jahren besucht hat: Autobiographisches Schreiben – verwandle dein eigenes Leben in ein Buch. Das hat viel mit Erinnern zu tun, an Gutes und Schweres. Erinnern, darum geht’s heute am 9. November. An große Ereignisse der Geschichte wie ans eigene Leben.
Durch Erinnern die Spuren Gottes im Leben finden
Meine Nachbarin hat mir davon erzählt, wieviel Überwindung es sie gekostet hat: Jede Woche zwei Stunden sich hinsetzen und schreiben. In manchen Wochen hat sie gar nichts zu Papier gebracht, in anderen Wochen hat sie gleich mehrere Seiten am Stück geschrieben.
Irgendwann hat mir meine Nachbarin ihr Lebenswerk in die Hand gedrückt. 40 DIN A4 Seiten, in rote Pappe eingeschlagen und gebunden. Dieses Geschenk hat mich sehr berührt: Denn sie hat mir weitergegeben, was ihr selbst am Herzen lag. Für mich als Nachbarin, aber auch als Pfarrerin. Vielleicht spürt sie: Erinnern hat auch etwas mit Gott zu tun. Die Spuren Gottes im Leben finden. Im Nachhinein spüren: Da war Gott an meiner Seite, hat mir durchgeholfen durch gute und schwere Zeiten.
Erinnern ist für Juden und Christen ein wichtiges Thema. An die zu erinnern, die vergessen werden sollten. Sich an Liebe und Begleitung erinnern, von Menschen und Gott.
Warum manches erinnert werden will und anderes eher weniger
Die Erinnerungen meiner Nachbarin liegen nun vor mir und ich lese aus ihnen die Höhen und Tiefen des Lebens selbst. Es gab Lebensphasen, die sie eher grob umrissen hat. Andere dagegen hat sie feinsäuberlich ausgeschmückt. Zum Beispiel die Zeit, als sie eine Familie gegründet hat und zum ersten Mal Mutter geworden ist. Wie sie das Glück und das Leben in ihren Händen gespürt hat, so dass sie weinen musste. Und dann nur in kurzen Sätzen und mit vielen Gedankenstrichen der Zeitpunkt, als ihr Mann sie verlassen hat.
Meine Nachbarin hat ihr Leben selbst aufgeschrieben. Sie ist keine Schriftstellerin, manches klingt nicht ganz rund – wie das Leben selbst. Und doch ist sie Zeitzeugin geworden für ihre Kinder und Enkel – und für mich. Sie hat Erinnerungen Worte gegeben und sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart gerückt.
Erinnerung, die trägt, heute und in Zukunft
Ich weiß nicht, wann ich selbst einmal anfangen werde, mein Leben aufzuschreiben. Doch ich weiß, welcher Moment in jedem Fall darin vorkommen wird: Als ich im Herbst 1989 bei einer Montagsdemonstration auf den Schultern meines Vaters sitze und auf den Plakaten die Wörter „Freiheit“ und „Keine Gewalt“ lese. Diese Erfahrung prägt mich bis heute. Der 9. November ist der Tag, an dem ich mich an diese Zeit erinnere. Als eine Seite meiner Lebensgeschichte, die sich mit den Geschichten anderer verbindet. Erinnerung, die trägt – heute und in Zukunft.