Die Keksdose der Erinnerung
„Unsterblich sein. Nur mit dir alleine will ich unsterblich sein“, singt die Chemnitzer Band Kraftklub. Ich hörte dieses Lied im Radio, als ich sehr traurig war und an einen lieben, leider verstorbenen Menschen denken musste.
Nur mit dir allein will ich unsterblich sein
Die letzten Zeilen berührten mich besonders, denn genau so fühlte ich mich gerade: „Was würde ich geben für noch mehr Zeit, für noch ein Leben nur mit dir allein. Unsterblich sein. Nur mit dir allein will ich unsterblich sein.“ Worte für späte Herbsttage, an denen viele wie ich an Menschen denken, die einfach fehlen.
In der katholischen Kirche gibt es Anfang November Allerheiligen, in der evangelischen Kirche den heutigen Ewigkeitssonntag oder Totensonntag. Früher konnte ich mit diesem Blick auf Gräber und Verstorbene nicht viel anfangen. Ich wollte diese Gedanken auch gar nicht zulassen. Jesus soll gesagt haben: „Lass die Toten ihre Toten begraben.“ Das war mein Motto. Ich wollte leben und meine Zeit nicht gedanklich auf dem Friedhof verbringen.
Wie können wir mit dem Tod umgehen?
Inzwischen weiß ich, wie schmerzhaft es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Schmerz und Trauer haben mich anfangs völlig blockiert und ich weiß gar nicht mehr, wie ich die ersten Monate nach dem Verlust durchgestanden habe.
Jetzt ist einige Zeit vergangen. Es tut heute nicht mehr so weh. „Das Leben geht weiter“, sagen andere, oder „die Zeit heilt alle Wunden“. Aber will ich das überhaupt? Bei einer echten Wunde bleibt oft nur eine unscheinbare Narbe. Aber ich will diesen einen, geliebten Menschen nicht vergessen. Ich will nicht, dass am Ende nur noch eine Narbe bleibt.
Es gibt nichts, das die Lücke eines lieben Menschen ersetzen kann
Ich mag, was Dietrich Bonhoeffer dazu sagte, Pfarrer und Widerstandskämpfer, der einige Verluste zu betrauern hatte: „Es gibt nichts, was die Abwesenheit eines lieben Menschen ersetzen kann. Indem diese Lücke aber unausgefüllt bleibt“, sagt er, „bleibt man durch sie miteinander verbunden.“ [1].
Verbunden bleiben, und sei es durch eine Lücke: Das finde ich einen schönen, wohltuenden Gedanken, auch wenn es ein anderes Verbundensein ist als früher. Aber wie kann diese Verbundenheit praktisch aussehen? Wie macht man das? Eine gute Freundin erzählte mir von ihrem „Erinnerungs-Keksdosen-Projekt“.
Musik
Der Mann meiner guten Freundin starb im letzten Jahr viel zu früh an Krebs. Schon bald merkte sie: Sie braucht Hilfe in ihrer Trauer. Eine Freundin erzählt ihr von einer Trauergruppe. Einmal im Monat trifft sich die Gruppe im Nebenzimmer eines Kaffees. Bei einem dieser Treffen fragt jemand: Wer kennt Menschen in der Umgebung, die auch trauern? Darauf hat die Freundin nie geachtet. Doch jetzt fällt ihr die alte Frau aus dem zweiten Stock ein. Ihr Mann war vor einem Jahr gestorben. Und die junge Studentin, die sie erst vor kurzem weinend am Briefkasten getroffen hat. Sie hatte nicht viel gesagt, aber es war klar, dass ihre Mutter gestorben war.
Eine Idee, die zündet
In der Trauergruppe hatte sie dann ihre Idee. Sie nannte sie: „Erinnerungs-Keksdose“. Mit einem Zettel am Schwarzen Brett im Hausflur wurden alle die eingeladen, die jemanden Liebes verloren hatten. Samstags, 16 Uhr. Es sollte Tee und Kekse geben und das Treffen war in einer Wohnung, bei meiner Freundin. Auf der Einladung stand noch: „Bringt gern einen Zettel mit einer Erinnerung an euren lieben Menschen mit.“
Sie war überrascht, als beim ersten Treffen sechs Menschen an ihrem Küchentisch saßen: Fünf Frauen und ein älterer Mann aus dem Nachbarhaus. Niemand sprach viel. Alle kanten sich nur flüchtig, aus dem Treppenhaus, vom Bäcker nebenan, oder vom Kindergarten. Niemand hatte je größer mit anderen über seine Trauer gesprochen.
Diese Dose liebte mein Mann, er hätte gern, dass wir sie füllen
Es gab duftenden Weihnachtstee und frisch gebackene Plätzchen. Das war der Einstieg für meine Bekannte: Sie stellte eine alte Keksdose auf den Tisch. „Diese Dose liebte mein Mann“, sagte sie leise, „er hätte gern, dass wir sie füllen.“ Dann zog sie ihren Zettel aus der Tasche und erzählte, wie ihr Mann Josef immer von den Plätzchen seiner Oma geschwärmt hatte. Die Oma war eine begnadete Plätzchenbäckerin – ganz anders als sie selbst, seine Frau. Darum begann Josef irgendwann, selbst Kekse zu backen und sogar richtig gute. Er füllte sie dann immer in diese alte Dose, die er von seiner Großmutter hatte. Nach seinem Tod hob sie die Dose auf. Wenn sie sich zum Kaffee an den Tisch setzte und die Dose sah, kamen die Erinnerungen hoch. Sie sah ihren Mann, wie er die Dose vom Regal nahm und ihr einen frischen Keks anbot und dabei so lächelte, wie er nur lächeln konnte. Das war ihr ganz persönliches Kaffeeritual. All das stand auf ihren Zettel. Sie faltete ihn und steckte ihn in die Dose.
Erinnerungen und Geschichten teilen und in eine Keksdose stecken
Dann waren die anderen dran. Alle hatten einen Zettel mitgebracht. Auf einem lag ein Mini-Bild, auf einem anderen stand eine kurze Notiz in sauberer Schrift und eine Frau hatte eine ganze Seite beschrieben. „Danke, dass du mir gezeigt hast, wie man Pfannkuchen dreht“, stand auf einem anderen Zettel. Oder bei einer jungen Frau: „Ich wünschte, du hättest meine Hochzeit miterlebt.“ Alle Zettel landeten in der Dose. Dann schloss meine Freundin den Deckel und schlug vor: „Wir machen das zu unserem Ritual. Wir treffen uns hier mal wieder, lesen die alten Zettel und legen vielleicht neue in unsere Erinnerungs-Keksdose.“
Seitdem treffen sie sich etwa zweimal im Jahr. Es kommen nicht immer dieselben Menschen. Manchmal sind auch neue dabei, die den Zettel im Hausflur gesehen haben. Meine Bekannte erzählt: „Früher tat es weh, die leere Dose zu sehen.“ Sie war so leer, wie mein Herz leer war. Jetzt ist das anders. Wenn ich mich an den Tisch setze und die Dose anschaue, denk‘ ich an Josef. Und ich glaube, er wäre stolz auf mich. Die Dose ist zwar nicht mehr mit seinen leckeren Keksen gefüllt, aber mit guten Gedanken. Jetzt fühlt sich mein Herz nicht mehr leer an.“
Musik
Ich finde es gut, wie meine Freundin mit ihren Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann umgeht. Die Idee mit der Keksdose ist genial. Sie passt zu ihr. Aber ich muss noch meinen eigenen Weg finden. Ich brauch auch so etwas, eine Art Keksdose, einen eigenen Ort für meine Trauer.
Erinnerungen aufschreiben, so werden sie nicht vergessen
Ich glaube nicht, dass “die Zeit alle Wunden heilt”. Dieser Mensch und alles, was wir miteinander geteilt haben, ist auch keine Wunde für mich, die schnell verheilen soll. Unsere gemeinsame Zeit ging viel zu schnell zu Ende. Das macht mich traurig. Aber es war auch eine gute, wichtige Zeit. Ich will meine Erinnerungen daran festhalten.
Bei meiner Bekannten bewahrt die Keksdose all die warmen Erinnerungen. Man kann sie auf einen Zettel schreiben und in die Dose legen. Dann muss man keine Angst haben, sie zu vergessen. Sie sind an einem sicheren Ort.
Wie kann meine Keksdose aussehen?
Wie kann meine „Keksdose“ aussehen? Wie kann ich meine Erinnerungen festhalten? Für mich sind Fotos wichtig. Von Familienfesten und von ganz normalen Alltagssituationen. Meistens auf dem Handy. Jetzt wähle ich die wichtigen Fotos aus und stelle sie in Sammlungen zusammen. Immer wieder entdecke ich ein neues Foto, dass ich dann in eine dieser Sammlung aufnehme. So wächst mein Schatz an schönen Erinnerungen.
Und dann gibt es da noch die viele kleinen Dinge, die mich an meinen besonderen Menschen erinnern. Anfangs habe ich diese Dinge nicht groß beachtet. Aber jetzt, ohne diesen Menschen, sind sie mir viel wichtiger geworden. Sie sind wie ein Schatz, den ich an einem bestimmten Ort in meiner Wohnung berge. Da sind auch ganz alltägliche Dinge dabei, zum Beispiel die kleine Teetasse, früher war sie für mich nur eine von vielen in unserem Schrank. Heute ist das anders. Wenn ich sie aus dem Schrank nehmen und abends eine Tee daraus trinke, dann verbinden sich damit ganz besondere, wohltuende und warme Erinnerungen. Das fühlt sich richtig gut an.
Wenn Erinnern dankbar macht
Dietrich Bonhoeffer sagte dazu: „Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual in eine stille Freude. [2]
Ja, ich spüre diese Dankbarkeit, und gleichzeitig kommt der Schmerz immer wieder einmal hoch. Dann tut es mir gut, Fotos anzusehen oder die besonderen, greifbaren Erinnerungen in die Hand zu nehmen. Dann verwandelt sich – ganz langsam - der Schmerz in eine stille Dankbarkeit für eine wunderbare, gemeinsame Zeit.
[1] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, Seite 255 f
[2] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, Seite 255 f