hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Baumann, Pia

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Worte für das Leben finden

Worte für das Leben finden

„Mama, Du bist die Beste. Ich hab dich lieb.“ Sagt meine kleine Tochter und schlingt ihre Arme um mich. „Ich habe dich auch lieb“, sage ich und drücke sie ganz fest. „Ich hab dich lieb“ – das sind nur vier Worte. Doch sie lassen mich strahlen. Machen mich glücklich. Es sind Worte, die guttun. Die mich durch den Tag bringen.

Solche Worte sollte man sich und anderen viel öfter sagen. Am besten jeden Tag. Ich habe schon überlegt, ob ich sie mir auf ein Frühstücksbrettchen drucken lasse. Dann hätte ich sie jeden Morgen vor Augen. Bisher stehen auf unseren Frühstücksbrettchen Sätze wie „Morgenstund‘ hat Gold im Mund“ oder „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“ Mag alles richtig sein, verhilft uns aber morgens nicht zu einem glücklichen Start. Ich bin schon froh, wenn wir alle pünktlich aus dem Haus kommen.

„Ich habe dich lieb“, fände ich viel besser. Vier Worte nur, und wir wüssten in der morgendlichen Hektik wieder, worauf es wirklich ankommt. Was für eine schöne Vorstellung: Jeden Tag mit einem Wort oder einem Satz zu beginnen, der guttut. Deswegen bin ich seit kurzem in einer Lebenswortgruppe. Was das ist, wusste ich auch nicht. Bis ein Kollege anrief und fragte: „Hast du Lust, bei unserer Lebenswortgruppe mitzumachen? Wir würden uns freuen. Komm doch dazu!“

Das klang spannend, aber ich habe mich erst schlau gemacht. Wie das geht, eine Lebenswortgruppe. Ich habe herausgefunden: Eine Lebenswortgruppe trifft sich einmal im Monat. Ein Mitglied sucht einen schönen Satz aus. Das kann ein Satz aus der Bibel sein. Es kann aber auch eine Zeile aus einem Gedicht sein. Manchmal ist es vielleicht nur ein Wort. Wichtig ist, dass es im Leben hilft. Mut macht. Ein Wort, das man mit in den Alltag nimmt. Es morgens, mittags und abends liest. Für sich oder für andere. Als stünde es auf dem Frühstücksbrett. Die Idee greift eine alte Mönchsregel auf: Das sogenannte „Kauen von Worten“. „Kauen“ deshalb, weil sich mir nicht jedes Wort gleich erschließt. Manche muss man erst für sich drehen und wenden. Mit ihnen ringen. Wichtig ist, dass man nicht locker lässt. Klingt erstmal fremd. Ist aber auch nicht viel anders als eine Art Gymnastikgruppe. Nicht für meinen Körper, sondern für die Seele.

Ich habe zugesagt und mache in Zukunft mit. Aber ich habe auch Fragen wie: Kann jedes Wort ein Lebenswort sein? Oder: Was zeichnet ein Wort aus, das für mich zu einem Lebenswort werden kann? Ich frage mich: Wo oder wie finde ich solche Worte?

Musik

Kann jedes Wort ein Lebenswort sein? Das frage ich mich. Worte können mich glücklich machen. Zum Beispiel, wenn mein Kind mir sagt, dass es mich lieb hat. Oder vor ein paar Wochen: Da kam mein Vater nach einem meiner Gottesdienste zu mir und sagte: „Ich bin so stolz auf dich.“ Das hat mir unglaublich gutgetan.

Worte können aber auch verletzten. Ich habe schon im Streit unbedachte Worte gesagt. Das hing mir und meinem Gegenüber manchmal tagelang nach. Oder es stand jahrelang zwischen uns. Zurücknehmen, das ging nicht. Obwohl es mir leid tat.

Worte können verführen. Sie übermitteln nicht nur Informationen, sondern wecken Erwartungen oder Sehnsüchte. Das macht sich die Werbung zunutze. Sie verspricht die gesunde „Extra-Portion Milch“ und verkauft doch nur Zucker. Kosmetika machen Haut nicht nur sauber, sondern „porentief rein“ und auch nach dem vierzigsten Geburtstag wieder „streicheljung“. Atem kann „kussfrisch“ werden. Der Werbung ist es egal, ob das stimmt. Oder ob es die Worte „streicheljung“ oder „kussfrisch“ gibt. Wichtig ist, welche Gefühle und Bedürfnisse Werbeworte in uns wecken.

Manchmal schaffen es Worte, die Welt zu bewegen. Sie bleiben über Generationen im Gedächtnis. Unvergessen sind die Worte von Martin Luther King: „I have a dream!“ – \"Ich habe einen Traum!“ „Ich habe den Traum, dass meine Kinder irgendwann in einem Land leben, in dem Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden\", hat er gesagt. Ein Leben lang hat Martin Luther King sich dafür eingesetzt, dass alle Menschen gleich behandelt werden. Er kämpfte nicht mit Waffen, sondern mit Worten. Und er war erfolgreich: Die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen wurde in den USA offiziell aufgehoben. Überall: in Schulen, in Bussen, öffentlichen Gebäuden und Restaurants. Heute haben alle US-Amerikaner die gleichen Rechte. Das ist ein Vorbild für uns alle auf der Welt. Auch wenn die Umsetzung immer noch schwerfällt.

Worte haben eine Wirkung. Sie beeinflussen mein Leben. Aber deswegen ist noch lange nicht jedes Wort ein Lebenswort. Ein Wort ist nur dann ein Lebenswort, wenn es guttut. Wenn es mir hilft, mich aufbaut oder mir Mut macht. Und eben keine Kritik übt. Keinen Befehl erteilt. Und schon gar nicht, wenn es mich verletzt. Ich will nicht darauf warten, dass mir jemand Lebensworte sagt. Ich möchte selbst solche Worte für mich finden. Wie geht das?

Musik

Wo finde ich Worte, die mir guttun? Ich habe solche Lebensworte schon selbst gefunden. Zum Beispiel in meinem ersten Jahr als Pfarrerin. Da habe ich mir einen Satz an den Computer geklebt. Damit ich ihn vor Augen hatte. Er stammt von dem Dramatiker und Regisseur Heiner Müller. Der hat einmal gesagt: „Macht mehr Fehler, macht sie schneller, woraus wollt ihr sonst lernen?“ Mir hat das als Berufsanfängerin unheimlich gutgetan. Es hat mir geholfen. Ich hatte weniger Angst, etwas falsch zu machen. Dieser Satz ist damals für mich zu einem Lebenswort geworden.

Das will ich wieder haben: Solche Lebensworte für mich finden. Ich schaue in der Bibel nach. Sie wird schließlich das „lebendige Wort Gottes“ genannt. Lebendig, weil in der Bibel Menschen ihre Erfahrungen mit Gott aufgeschrieben haben. Wie Gott ihr Leben berührt hat: Wenn sie traurig waren oder in Not. Aber auch, wenn sie sehr glücklich waren. Besonders wichtige Sätze sind in meiner Bibel fett gedruckt. So kann man sie leichter finden. Das ist ein guter Anfang. Beim Blättern fällt mir ein Satz ins Auge, den ich gut kenne. Es ist mein Konfirmationsspruch. Er ist auch fett gedruckt. Dort steht: „Wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, so will ich mich von euch finden lassen, spricht Gott.“ Ich erinnere mich: Diesen Satz habe ich mir als Jugendliche selbst ausgesucht. Als Begleiter für mein Leben. Seitdem steht er auf meiner Konfirmationsurkunde. Gott sagt: „Wenn ihr mich sucht, will ich mich finden lassen.“ Das tat mir als Jugendlicher gut. Weil ich selber auf der Suche war. Nach mir selbst, aber auch nach etwas, was mir in meinem Leben Halt und Richtung geben konnte.

Auch heute ist der Satz gut für mich. Weil er mir etwas verspricht, aber auch weil er mich herausfordert. Es ist nicht selbstverständlich, dass Gott da ist. Gott will, dass ich mich auf die Suche mache. Mit ganzem Herzen. Das ist anstrengend und mühsam. Es gibt Tage, da geht es mir schlecht. Die Arbeit, die Familie – das wird mir manchmal zu viel. Manchmal fühle ich mich von Gott und der Welt verlassen und verloren. Dann rufe ich mir meinen Konfirmationsspruch in Erinnerung. Sage ihn auf. Nur für mich. Und es geht mir besser. Weil ich mich wieder daran erinnere, dass Gott bei mir ist. Gerade dann, wenn es mir nicht gut geht. Seltsamerweise ist es so: Wenn ich Gott suche, finde ich mich wieder. Aber vielleicht ist es ja auch Gott, der mich dann findet.

Also: Nach den wichtigsten Worten in meinem Leben musste ich gar nicht lange suchen. Diese drei Lebensworte habe ich bereits für mich gefunden: „Ich hab dich lieb.“ Und: „Macht mehr Fehler, woraus wollt ihr sonst lernen?“ Und: „Gott sagt: Wenn ihr mich sucht, will ich mich finden lassen.“ Ich überlege ernsthaft, die Sätze auf meine Frühstücksbrettchen drucken zu lassen. Dann kann ich sie zusammen mit meinem Brot jeden Morgen richtig durchkauen. Jemand anderes steckt sich seine Lebensworte vielleicht lieber ins Portemonnaie oder an die Pinnwand. Auch gut. Hauptsache, wir suchen und finden sie.