hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Jarzina, Anke

Ein Sendung von

Katholische Pastoralreferentin in der Pfarrei St. Peter und Paul in Wiesbaden

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Perfekt unperfekt

In den letzten Wochen habe ich viel Zeit in unserer Küche verbracht. Aber nicht zum Kochen. Ich hab ein bisschen gehandwerkert: gebohrt, geschraubt - und improvisiert. Nicht alles ist perfekt geworden. Immerhin hab ich nicht nur Möbel zusammengebaut, sondern auch Kabel verlegt, Lampen aufgehängt und angeschlossen und Paneele verschraubt. Was mich früher wahnsinnig gemacht hätte: Die Lampe über dem Küchentisch hängt immer noch nicht hundertprozentig gerade, an manchen Stellen guckt sogar noch ein bisschen vom Kabel raus - und die Schubladen vom Sideboard schließen manchmal nicht richtig. Aber ich glaube auch: Genau diese kleinen Macken machen den Raum lebendig und wohnlich. Er ist perfekt unperfekt.

Sich aufregen über kleine Unvollkommenheiten lohnt nicht

Ich neige eigentlich schon zum Perfektionismus, vor allem bei handwerklichen Dingen. Vor allem mein Mann kann ein Liedchen davon singen. Wenn ich etwas zusammenbaue oder repariere, dann soll es ordentlich sein, funktionieren und schön aussehen. Ich ärgere mich, wenn es nicht so klappt, wie ich es will. Aber mit den Jahren hab ich gemerkt: Die Aufregung über kleine Unvollkommenheiten lohnt sich nicht. Sie kostet unverhältnismäßig viel Energie. Meistens ist das Ergebnis ja trotzdem brauchbar. Außerdem merk ich zunehmend: Gerade in den improvisierten, nicht perfekten Ergebnissen meiner Handwerkskunst liegt ja ein gewisser Charme - weil sie einzigartig sind.

Mittlerweile erkenne ich das Schöne im Unperfekten leichter

Vielleicht fällt mir das inzwischen leichter, weil ich älter geworden bin. Ich sehe heute manches gelassener, was mich früher schnell auf die Palme gebracht hat. Vielleicht erkenne ich in dem Unperfekten aber auch deshalb leichter das Schöne, weil ich so viel draußen unterwegs bin. Gerade jetzt im Herbst seh ich: Die Natur ist wundervoll - aber perfekt im Sinne von gleichmäßig oder kerzengerade ist sie wirklich nicht. Die schönen bunten Blätter sind meistens von Raupen angefressen, die Äpfel haben Macken und liegen faulend am Boden, die Bäume wirken ohne ihr Laub kalt und knorrig. Und doch: Genau in dieser angefressenen, faulenden und knorrigen Natur liegt eine besondere Schönheit – unvollkommen reich und bunt und einzigartig

Musik

Dieser Gedanke hat mich früher fasziniert

Im Studium hab ich mal gelernt: Das vollkommene, perfekte, ideale Sein – das ist Gott. Ein Grundsatz der mittelalterlichen Theologen, Thomas von Aquin war zum Beispiel einer der Vertreter. Der Gedanke hat mich früher fasziniert: „Gott ist das, über das hinaus nichts Höheres, Perfekteres gedacht werden kann.“ Das bedeutet: Je näher ich an Gott bin, desto näher bin ich an der Perfektion dran.

Aber ist Gott nicht gerade da, wo etwas kaputt und verletzt ist?

Inzwischen aber glaub ich: Mit dem Leben hat diese scholastische Theologie wenig zu tun. Da begegne ich einfach dauernd Unvollkommenheiten und Brüchen – und ich hab nicht das Gefühl, mich dadurch von Gott zu entfernen. Im Gegenteil: Gerade da, wo etwas nicht perfekt und sogar kaputt, verletzt, zerstört ist, da ist Gott.

Ich habe meine eigenen Grenzen erfahren

Diese Einsicht hängt auch mit der Erfahrung meiner eigenen Grenzen zusammen. Ich lebe seit Jahren mit Depressionen. An schlimmen Tagen zeigen die sich in heftigen Selbstzweifeln und Schuldgefühlen. Dann denk ich: Alle anderen kriegen ihren Alltag und das ganze Leben perfekt auf die Reihe, nur ich nicht! Dieser Gedanke zieht mich total runter. Ich hab dann noch weniger Kraft für die einfachsten Sachen. Ich krieg gefühlt nichts hin und verzweifle daran. Das kostet unglaublich viel Energie.

In der Depression fühle ich: Ich bin ein Wurm, kein Mensch

Früher dachte ich: Das geht nur mir so. Inzwischen weiß ich: Sehr viele Menschen kennen das. Sogar in der Bibel kann ich davon lesen, zum Beispiel im Buch der Psalmen. Ein Psalm (Psalm 22) beginnt sogar mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Und dann steht da: „Ich bin ein Wurm, kein Mensch“. Das kommt mir ehrlich gesagt total bekannt vor: Genau so fühl ich mich in der Depression: Mutterseelenallein und minderwertig.

Aber heute weiß ich: Ich bin nicht weniger wert als andere

Ich hab gelernt: Meine Gedanken sind einfach nur Gedanken. Die muss ich nicht für wahr halten. In der Depression ist das schwer, aber heute weiß ich: Ich bin kein Wurm und ich bin auch nicht weniger wert als andere. Und: In Wirklichkeit ist niemand perfekt. Vielleicht gibt es Perfektion gar nicht.

Musik

Ist Perfektion vielleicht eine Illusion?

Vielleicht ist Perfektion eine Illusion – und eben nicht das, was mit Gott gleichgesetzt werden kann. Auf die Idee kamen auch schon Theologen im Mittelalter. Vor allem die sogenannten Mystiker und Mystikerinnen hatten ein Gefühl dafür. Sie haben sich nicht nur auf ihren Verstand verlassen, sondern auch auf das, was sie erfahren und gefühlt haben. Ein bedeutender Mystiker war Meister Eckhart. Er hat mal gesagt: „Geh in deinen eigenen Grund, da ist dein Leben“. Er war der Meinung: Dort, auf diesem „Seelengrund“, begegnen sich die menschliche Seele und Gott. Meister Eckhart hat sogar gesagt: „Gott und ich, wir sind eins“.

Ich bin „zugrunde gegangen“ und war am Boden

Das klingt ungewöhnlich, aber ehrlich gesagt: Ich kann das nachvollziehen. Denn: In meinen schlimmsten depressiven Phasen war ich auf meinem „Seelengrund“ gelandet - und zwar hart. In gewisser Weise bin ich „zugrunde gegangen“ und war am Boden. Das war schrecklich und ich wünsch es wirklich niemandem. Aber: Gerade da war ich irgendwie ganz bei mir und meiner innersten Wirklichkeit. Ich glaube: Diese Erfahrung hatte etwas mit Gott zu tun.

Du hast mir Antwort gegeben

Im Psalm 22 endet die Depression des Psalmbeters ganz plötzlich. Auf einmal steht da: „Du hast mir Antwort gegeben“. Das ist wie ein Aufatmen. Vielleicht hat dieser Mensch erfahren: Auf dem Seelengrund, weit weg von der Illusion Perfektion, da ist Gott – und gibt Antwort. In der Bibel steht: Jesus hat genau diesen Psalm am Kreuz gebetet, bevor er gestorben ist. Das passt, denn: Jesus stirbt, er geht „zugrunde“ – und erst dann kann er zu neuem Leben auferstehen.

Gott scheint genau dieses Unperfekte zu lieben

Die biblischen Geschichten, die Erzählungen von anderen Menschen und meine eigenen Erfahrungen: Das sind für mich klare Zeichen: Gott ist da, mitten im echten Leben inklusive aller Höhen und Tiefen. Das echte Leben ist nicht perfekt und kein Mensch ist perfekt. Und: Gott scheint genau dieses Unperfekte zu lieben.  

Jedes Blatt, jeder Baum ist unperfekt – und einzigartig

Wenn mir jetzt also diese kleinen Unperfektheiten in meiner Küche ins Auge fallen, will ich mich nicht mehr aufregen. Ich will daran denken: Unsere Küche ist einzigartig – genau wie ich und wie jeder andere Mensch - und wie diese ganze Welt. Wenn ich jetzt im Herbst draußen in der Natur unterwegs bin, sehe ich: Jedes Blatt, jeder Baum ist gleichzeitig unperfekt - und einzigartig. Genau so liebe und genieße ich diese Natur. Und: Ich fühl mich als ein Teil von ihr: unperfekt, einzigartig und genau gut so, wie ich bin.

Und siehe es war sehr gut – nicht perfekt!

In der Bibel wird erzählt: Gott schuftet sieben Tage lang, um die Welt zu erschaffen. Nach jedem Schöpfungstag steht da: „Und Gott sah, dass es gut war.“ Am Ende, nachdem alle Arbeit erledigt ist und bevor Gott sich ausruht, heißt es sogar: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut.“ (1. Buch Moses, 1. Kapitel, Vers 31) Was für ein Resümee! Da steht nicht „Es war perfekt.“ Da steht: „Es war sehr gut.“

Der Herbst zeigt mir wieder: Alles, was ist, ist perfekt unperfekt

Genau so schau ich jetzt auf meine Küche: Sie ist nicht perfekt geworden – aber sie ist sehr gut, so, wie sie ist. Ich hab das Gefühl: Dieser Gedanke hilft mir. Zum einen dämpft er meinen Perfektionismus und schont damit meine Nerven - und die meiner Familie. Und zum anderen ändert der Gedanke auch meinen Blick auf den Herbst. Denn die sogenannte dunkle Jahreszeit muss nicht automatisch für trübe Stimmung oder sogar Depressionen sorgen. Der Herbst macht mir nur wieder bewusst: Alles, was ist, ist perfekt unperfekt. - Was für eine Erleichterung!