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Fischer, Matti

Ein Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Marburg

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Nachverdichtung

Es ist einer der letzten Sommertage auf dem Balkon. Drüben am Hang verfärben sich schon die ersten Bäume. Samstagfrüh. Erstmal keine Termine. Die Familie ist irgendwo unterwegs. Ich habe meine Kaffeetasse in der Hand. Das Handy liegt weit weg irgendwo in der Wohnung. Gut so. Ich starre einfach mal vor mich hin.

Gebäude aus der Gründerzeit

Wir wohnen in Marburg, mitten in der Stadt. Von unserem Balkon aus schaue ich in die Gärten der benachbarten Wohnhäuser. Campusviertel heißt unsere Gegend etwas großspurig. Gebäude aus der Gründerzeit. Die meisten der Häuser sind über 100 Jahre alt.

Eine Oase mitten in der Stadt

Eher alt als chic. Viele Studenten wohnen hier, viel Wechsel in den Wohnungen. Die Gärten sind eher wild als gepflegt. Gute Orte für sommerliche WG-Garten-Partys. Es ist eine wunderbare Ansammlung von Grün, die hier zwischen den hohen Häusern, versteckt von den umgebenden Straßen, unter unserem Balkon liegt. Eine Oase im Trubel der Stadt.

Nachverdichtung des städtischen Wohnraums

Vor Tagen las ich in der Oberhessischen Presse, der Tageszeitung für den Marburger Raum, einen Artikel über Pläne zur Nachverdichtung des städtischen Wohnraums. Auch in Marburg sind Wohnungen knapp. Immer mehr Studenten kommen Semester für Semester an die Marburger Uni. Und der Boom der Pharmaindustrie in den letzten Jahren hat viele Menschen nach Marburg gelockt. Wohnraum ist knapp und wird immer teurer.

Bauen in Hinterhöfen und Gärten, um neuen Wohnraum zu schaffen

Da Marburg im Lahntal liegt, eng eingeschlossen zwischen den Lahnbergen, gibt es kaum noch Fläche, auf der gebaut werden kann. Das Zauberwort heißt also „Nachverdichtung“. Die Stadt macht sich auf die Suche nach Flächen innerhalb der Stadt, auf denen noch gebaut werden kann. Grünflächen könnten verkleinert werden, große Innenhöfe bebaut. In vielen Städten geht man diesen Weg. Und dieser Weg hat ja was für sich. Ist es doch besser, dort zu bauen, wo eh schon die Menschen sind und nicht noch weitere Naturflächen zu versiegeln.

Ist Nachverdichtung ein Grundprinzip unsrer Gesellschaft?

Ich bleibe aber bei dem Wort „Nachverdichtung“ hängen. Ein Fachbegriff aus der Architektur und dem Städtebau. Ich lasse dem Wort mal Raum. „Nachverdichtung“. Plötzlich merke ich, wie das Wort in mir arbeiten beginnt. Nachverdichtung scheint so etwas wie ein Grundprinzip unserer Gesellschaft und meines Lebens zu sein. Eigentlich führen viele von uns ein nachverdichtetes Leben.  Kann es sein, dass ich selber die ganze Zeit damit zu tun habe, mein Leben nachzuverdichten?
Musik

Auf der Suche nach einem gemeinsamen Termin

Nachverdichtung. Das ist für die Städte ein gutes Konzept, um der Raumnot zu begegnen. Aber mein Leben wird nicht unbedingt leichter, wenn ich es ständig nachverdichte. Ich muss an ein Gespräch denken, dass ich vor ein paar Wochen mit einem Freund geführt habe. Wir suchten nach einem Termin, an dem wir uns mal wieder treffen könnten. Wir wohnen in verschiedenen Städten und versuchen, uns alle paar Wochen mal auf halber Strecke zwischen unseren Wohnorten auf ein Feierabendbier zu treffen.

Als wir nun unser nächstes Treffen planten, da saßen wir am Telefon, jeder seinen Kalender im Blick. Mein Freund sagte: „Also, wenn ich das Gespräch am Nachmittag ein bisschen schneller beende und den Abendtermin auf den nächsten Tag verschiebe, dann sollte es passen.“

Wenn man seine Zeit nachverdichtet, findet man auch einen Termmin

Wir fanden eine Lücke, einen Platz in unseren Kalendern. Den findet man ja erstaunlich oft, wenn es einem wichtig ist. Da kann man hier noch ein bisschen schieben und sich dort noch ein bisschen beeilen, dann passt das schon. Zeit kann man meist erstaunlich eng zusammenpressen. Und die Tage, die im Blick in den Kalender in zwei Monaten noch luftig und entspannt aussehen, werden dann von Woche zu Woche immer dichter und voller. Nachverdichtung. Ist doch normal, oder? Die leeren Seiten des Kalenders, die leeren Grundstücke in der Nachbarschaft, sie wollen gefüllt werden.

Wenn jemand zuviel Zeit hat, kommt einem das merkwürdig vor

Wenn ein Freund mir sagt: „Komm heute gerne vorbei, ich habe eigentlich abends immer Zeit…“, dann werde ich hellhörig. Arbeitet der nicht richtig? Hat der keine Familie oder Hobbys? Da scheint etwas nicht zu stimmen mit so einem Leben, dass nicht vollgepackt ist mit Terminen. So merkwürdige Gedanken kommen mir manchmal.

Haben Sie noch Lücken in Ihrem Termin-Kalender?

Die Lücke hat keinen guten Ruf. Die wirkt irgendwie wie ein Fehler. Die Lücke im Lebenslauf. Die Stunden, in denen es plötzlich nichts mehr zu tun gibt. Die ungenutzte Fläche im Gedränge der Stadt. Da fehlt doch was. Da muss doch was hin. Und zwar schnell. Das schreit doch nach Nachverdichtung. 

So empfinden es viele: Wir leben in fortwährender Nachverdichtung. Unsere Lebenszeiten und Lebensräume sind durchweg unter Druck. Immer mehr Leben in immer weniger Raum und immer enger werdender Zeit.

Das Leben braucht auch mal eine Lücke

Aber Leben braucht doch manchmal die Lücke. Löwenzahn, der durch den Riss im Asphalt hervorbricht. Der unbekannte Mensch, der plötzlich in mein Leben tritt, weil ich endlich einmal zulasse, dass etwas Neues sein darf.

Leben braucht die Lücke. Gott braucht die Lücke. Wenn ich meine Zeit immer weiter vollstopfe, dann dränge ich Gott raus aus meinem Leben. Ich glaube, dass er die stillen Momente braucht. Die Pausen. Den Bruch in der Zeit. Manchmal auch den Bruch im Lebenslauf. Den Moment, wo es nicht mehr weitergeht mit dem immer mehr und immer schneller. Wo mich die letzte Nachverdichtung dann aus der Bahn wirft. Krank vor Lebensdichte. Atemlos hechelnd von Termin zu Termin. 

Manchmal meldet sich eine Stimme, die zum sich Zeit nehmen aufruft

Manchmal meldet sich dann eine andere Stimme, eine andere Gewissheit: „Du darfst dir Zeit nehmen. Du darfst auf Lücke leben. Dein Leben ist nicht dann erst gut, wenn in deinem Terminkalender kein Platz mehr ist.“ Leider meldet sich diese Stimme oft erst, wenn die komplette Erschöpfung ein „weiter so“ unmöglich macht. 

Musik

Schlaue Ratschläge helfen nicht

Ich sitze auf meinem Balkon und denke über die Nachverdichtung des Lebens nach. Und ich merke, wie falsch es klingt, wenn ich gegen den Stress und die Überforderung des Lebens nur schlaue Ratschläge verteile: „Nimm dir mehr Zeit! Versuche mal, mehr Pausen zu machen!“ Nee, so einfach ist das nicht. Wir leben ja alle zusammen in durchgehender Nachverdichtung. Es drängt von allen Seiten.

Die Verdichtung unserer Lebenszeit ist ein gesellschaftliches Problem

Wie schnell bin ich dabei, für meine eigenen Freiräume zu kämpfen. Wie oft denke ich, es liegt an mir, dass ich das nicht hinbekomme mit dem Leben. Dann zweifele ich an meinem Zeitmanagement und vergesse, ganz vielen von uns geht es so. Für uns alle werden ja die Räume und die Zeiten und die Kräfte knapp. Die zunehmende Verdichtung unseres Lebens ist kein Fehler von einzelnen Menschen, die es nicht hinbekommen. Sondern viele von uns sind herausgefordert, dagegen etwas zu tun.

Zeit und Raum für Lücken pflegen

Für mich wäre ein erster Schritt, Orte und Zeiten zu erhalten, in denen wir gemeinsam die Lücken und die freien Räume offenhalten. Nicht auch noch unsere Frei-Zeit, unsere freie Zeit, zubauen mit allen möglichen scheinbar nützlichen Aktivitäten. Wirklich gemeinsam Zeit und Raum und Lücken pflegen und uns gegenseitig zugestehen. Da entsteht neues, unerwartetes, da kann ich auftanken!

Der Sonntag: Ein Tag, um Gedanken Raum zu geben

Die Kirche ist für mich so ein Raum der Lücke. Mitten in unserer Stadt ein Ort, der uns, die wir hier wohnen, Platz schafft zum Atmen. Ein Raum gegen die fortwährende Nachverdichtung unserer Gesellschaft. Und der Sonntag ist die dazu passende Zeit der Lücke. Ein Tag, an dem viele gemeinsam Zeit haben. Nicht in allererster Linie, um wieder fit zu werden für die Lebensdichte in der Woche. Ich glaube, der Sonntag ist wichtig als gemeinsame Zeit der Lücke. Zweckfrei. Zeit, etwas anderes wirken zu lassen. Zweckfrei still sein, Gedanken Raum geben. Zwischen uns und mitten in unserer Gemeinschaft.

Die Bagger werden vielleicht bald in unseren Hinterhof rollen. Wir brauchen auch bei uns neue Wohnungen, keine Frage. Aber noch genieße ich die grüne Lücke in der Stadt. Und das bunte Leben, dass ich von meinem Balkon aus beobachten kann.