hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

Wozu Erziehung?

Wozu Erziehung?

„Wir brauchen keine Erziehung. Lasst uns Kinder alleine!“ Das fordert provokativ die Gruppe Pink Floyd in ihrem Lied „Another Brick in the Wall“. Dieses eingängige Lied hat Pink Floyd 1979 veröffentlicht. Es wird also inzwischen seit über 30 Jahren im Radio gespielt, in Discos betanzt und auf Partys mitgesungen. Zuletzt vor drei Wochen vor ganz großem Publikum in der Commerzbank Arena in Frankfurt. Da wurde die Rockoper „The Wall“ aufgeführt, zu der gehört das Lied. Mit ihm ist eine ganze Generation aufgewachsen und viele haben beim Hören mit dem Gedanken gespielt, wie gut sich Kinder wohl entwickeln würden, wenn man sie nur alleine ließe.

Dazu setzt die Bibel einen ganz anderen Akzent. Sie ist überzeugt davon, dass Kinder geführt werden müssen, damit sie sich gut entwickeln. Und dass Kinder gar nicht alleine gelassen werden wollen, sie brauchen vielmehr Erwachsene. Berühmt ist der Satz von Jesus: „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solchen gehört das Himmelreich.“ (Markus 10,14)

Doch die Gruppe Pink Floyd singt: „Wir brauchen keine Erziehung. Lasst uns Kinder alleine!“ Und nicht wenige werden dem zustimmen – zumindest in schwachen Momenten: Zum Beispiel Eltern am Ende ihrer Kräfte, die an ihren Kindern und an ihrem Erziehungsauftrag verzweifeln. Jugendliche, die sich von Erwachsenen bevormundet fühlen. Genervte Lehrerinnen und Lehrer, die die Nase voll haben von unmotivierten Schülern. Und trotzdem: Auch in diesem Jahr sind sie alle wieder aus den Sommerferien zurück gekommen. Wie in all den Jahren davor auch schon. Seit zwei Wochen gehen sie schon wieder ganz brav in die Schule, um Bildung und Erziehung zu genießen.

Und das ist auch gut so. Denn ohne Bildung und Erziehung geht es nicht. Das kann man schon bei den ganz Kleinen auf dem Spielplatz sehen. Die sind nicht automatisch lernfreudig, sozial und füreinander aufmerksam. Das müssen sie erst lernen und üben. (Sprüche 22,6) Aus gutem Grund hat Jesus gesagt: „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht.“ (Markus 10,14) Jesus will die Kinder nicht von den Erwachsenen fern halten und die wollen auch gar nicht fern bleiben. Jesus weiß: Kinder haben etwas zu geben. Und er weiß auch, was sie zum Lernen brauchen: die Nähe, die Liebe und die Herzensweite von Erwachsenen. Bildung braucht Liebe – davon bin ich überzeugt. Und darum ging es auch der Gruppe Pink Floyd in ihrem Popsong. Sie wollten damit Bildung und Erziehung nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern nur eine bestimmte.

„Wir brauchen keine Erziehung. Wir brauchen keine Gedankenkontrolle. Kein dunkler Sarkasmus im Klassenzimmer. Lehrer, lasst die Kinder alleine!“ Die Musiker von Pink Floyd kritisieren damit die Verhältnisse in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie selbst in die Schule gingen. Damals gab es nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und anderswo auch noch die schwarze Pädagogik. Mit ihr wurden Jahrhunderte lang Kinder bewusst verängstigt oder gar seelisch zerstört, damit sie, neu aufgebaut, zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft heranreifen würden. Dieser Erziehung lag die Vorstellung zugrunde, dass die Kinder geformt werden müssen, weil sie aus sich selbst heraus nicht die Kraft zum Guten hätten. Sie sollten deshalb Gehorsam lernen.

Ich habe selbst noch die Ausläufer dieser Pädagogik erlebt. Mitte der 1960er Jahre. Da mussten wir Kinder uns auf dem Schulhof versammeln und in Zweierreihen in die Klassenzimmer marschieren. Dort mussten wir am Platz stehen bleiben, laut und zusammen „Guten Morgen, Herr Lehrer“ rufen. Dann erst gab er ein Zeichen und wir durften wir uns setzen. Militärischer Drill war da nicht fern. Oft hatten wir gemeinsam bestimmte Merksätze laut aufzusagen. Manchmal wurden Schüler nach vorne an die Tafel befohlen, wo sie bloßgestellt und fertig gemacht wurden. Nicht alle, aber manche Lehrer wollten ängstliche und folgsame Schüler haben. Darauf, auf diesen dunklen Sarkasmus, bezieht sich die Kritik des Liedes von Pink Floyd. Das haben die Musiker immer wieder betont.

Diese schwarze Pädagogik ist auch an manchen Stellen der Bibel dokumentiert. Dort werden Volksweisheiten aus alter Zeit überliefert. Sie fordern die Eltern auf, sich intensiv um ihre Kinder zu kümmern – auch mit Schlägen. (Sprüche 13,24) Dabei setzt die Bibel den Eltern aber eine wichtige Grenze. Sie sollen nicht ihren Zorn an den Kindern auslassen. Kinder sollen nur gezüchtigt werden, um sie auf dem rechten Weg zu halten. (Sprüche 19,18) Das klingt in heutigen Ohren gruselig und das ist es auch.

Für die antike Zeit steckt darin aber auch ein neues Denken: Kinder sind nicht Eigentum ihrer Eltern, die sich womöglich an ihnen austoben könnten. Im Gegenteil: „Kinder sind ein Geschenk Gottes, so heißt es in Psalm 127 (Psalm 127,3f). Die Bibel beschreibt, wie sehr die Eltern mit ihren Kindern eine Einheit bilden, wie sehr also Lehrende und Lernende aufeinander angewiesen sind. Das Wohl der Eltern hängt von den Kindern ab, das Wohl der Kinder von den Eltern. (Sprüche 17,6 / Kolosser 3,21) Dieser Zusammenhang scheint heute weitgehend verloren zu sein, aber er hat dennoch eine tiefere Wahrheit.

„Hey, Lehrer, lasst uns Kinder alleine. Alles in allem seid ihr nur ein weiterer Stein in der Wand.“ So lautet der Text übersetzt. Und genau so – nur auf englisch – heißt auch das Lied von Pink Floyd: „Another Brick in the Wall“. Es stammt aus der Rockoper „The Wall“, die die Geschichte eines jungen Mannes erzählt. Der baut um sich herum eine Wand – als Schutz, um nicht seelisch verletzt zu werden. Erlebnisse wie die in der Schule, aber auch zuhause, sind für ihn nur Steine, die diese Wand immer größer werden lassen. Sie machen aber auch seine innere Einsamkeit immer größer.

Genau darum geht es beim Erziehen: diese innere Einsamkeit zu verhindern. Kinder sollen lernen, offen und selbstbewusst ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Was brauchen sie dafür? Sicher keine schwarze Pädagogik, die Kinder verängstigt oder gar seelisch zerstört. Aber auch nicht das Gegenteil: Eltern, die gar keine Vorgaben mehr machen wollen, sowie Erzieherinnen und Lehrer, die gar keine Vorbilder mehr sein wollen. Nur Freiraum, damit sich die Kinder frei entfalten können, ist zu wenig. Heute gibt es ein anderes Problem: Kinder sollen schon möglichst früh, möglichst viel und möglichst nützliches Wissen in sich aufnehmen. Denn die Kinder sollen später mal gute Arbeitskräfte werden.

Zugegeben: Der Konkurrenzkampf ist hart. Und Bildung ist ein Schlüssel zum Erfolg. Aber dabei muss etwas Wichtiges im Blick bleiben: Bildung braucht Liebe. Und zwar die Liebe von Menschen, die auch bereit sind dafür persönlich einzustehen. Die bereit sind, dafür einen Konflikt einzugehen und unterschiedliche Meinungen auszutragen. Auch wenn das oft alles andere als angenehm ist, für beide Seiten. Kinder brauchen nicht nur Freiraum und nicht nur nützliches Wissen. Sie brauchen auch Erwachsene, die ihnen etwas vorleben, die eine Meinung haben und ein Gewissen. Und die sich die Mühe machen, dafür auch einzustehen. Auch kleine Kinder sind schon große Persönlichkeiten.

Aber sie müssen sich noch an etwas kuscheln, um sich geborgen zu fühlen. Sie müssen sich an etwas reiben, um sich entwickeln zu können. Und sie brauchen Leute, denen sie etwas Gutes nachmachen können. Jesus sagt: „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solchen gehört das Himmelreich.“ (Markus 10,14) Darin steckt, was Kinder zum Lernen brauchen: die Nähe, die Aufmerksamkeit und die Herzensweite von Erwachsenen. Denn genau darin spüren sie auch etwas von der Liebe Gottes. Das ist in der Bibel der entscheidende Punkt. Deshalb bezeichnet sie Gott als Vater. Und beschreibt ihn auch als Mutter. (Jesaja 49,15) So wie Gott sollen es auch die Väter und Mütter machen. Und auch die Erzieherinnen und die Lehrer. Sie sollen um die Kinder ringen, sie beschützen, sie ermutigen, sie kritisieren – und letztlich doch ihre Wege gehen lassen. Leider weiß man dabei nie genau, wie viel die Kinder davon jeweils brauchen. Man weiß das meist weder davor, noch dabei, noch danach. Und man hat nur einen Versuch für jedes Kind. Deshalb ist Erziehen immer ein Versuch und ein Risiko.

Das ist nicht leicht zu schaffen. Etwas hilft den Eltern dabei: Wenn sie selbst als Kinder diese Liebe und Herzensweite erlebt haben, bei ihren Eltern – und von Gott. Wer sich in dieser Liebe geborgen weiß, steht die große Erziehungsaufgabe besser durch: All die offenen Fragen und die mühsamen Zeiten. Kinder – und nicht nur die! – finden den Sinn ihres Lebens nicht allein in sich, sondern indem sie ihr Leben auf andere beziehen. Auf Menschen, die sie um sich haben. Und im letzten auf Gott, den Urgrund des Lebens.