Soviel Du brauchst
Zwei Jungs klingeln bei mir. Der Eine heult. „Sein Schlüssel ist weg. Verloren. Irgendwo hier am Gemeindehaus im Garten!“ sagt der Andere. Der Junge mit dem verlorenen Schlüssel heult so, dass er kein Wort rauskriegt. Die Tränen schießen nur so aus seinen Augen, der Mund ist weit auf. Beide sind vielleicht so 1. Klasse. Sie haben schon eine Stunde lang im Gemeindegarten gesucht, den ganzen Rasen abgegrast, sagen sie. Jetzt kommt die Dämmerung. Nach Hause müssen sie auch. Der Andere sagt, dass sein Freund böse Druck kriegt wegen des Schlüssels. Den Hausschlüssel hat er nämlich erst seit drei Tagen. Und jetzt schon verloren.
Ich schaue die beiden im Türrahmen an. Eigentlich habe ich keine Zeit. Auch nicht so richtig Lust durch den großen Kirchgarten zu kriechen. Was man als Erwachsener eben so denkt. Ich bin am Vorbereiten. Unter Druck. Mir fallen lauter schlaue Entschuldigungen ein, warum ich jetzt nicht rausgehen kann zum Suchen. Die beiden Jungs schauen mich erwartungsvoll an. Die Tränen tropfen schon auf den Fußboden. Zwei Minuten später krabbele ich mit ihnen auf dem großen Gartengrundstück herum. Auf den Knien. Da, wo sie denken, dass der Schlüssel beim Spielen und Toben in der Gruppenstunde verloren ging. Ich konnte einfach nicht „nein“ sagen. Meine sonstige Arbeit muss warten. Auch, wenn ich dieses Problem vielleicht selbst nicht so dramatisch finde, für das Kind, das seinen Hausschlüssel, verloren hat, ist das eine schlimme Sache. Es möchte nicht als Dummkopf da stehen, als Schussel, zu dumm, um auch nur drei Tage auf einen Schlüssel achtzugeben. Vielleicht hat er schon eine kleine Geschichte als Schussel, als Verlierer. Für ihn ist dieser Moment einfach wichtig. Dass wir alles versuchen, seinen Schlüssel wiederzufinden.
„So viel du brauchst“ ist das Motto des Hamburger Evangelischen Kirchentags, der heute mit einem Gottesdienst zu Ende geht. „So viel du brauchst“ – das galt auch für die Bitte der beiden Jungs um Hilfe, der ich mich nicht verschließen konnte. Irgendwann haben wir den verlorenen Schlüssel dann auch im Gras entdeckt. „So viel du brauchst“ – das meint doch: Schauen, was jemand um mich braucht, was eben in einem Moment grad nötig und wichtig ist. Und das ist nicht in jedem Moment für jeden Menschen das Gleiche! Das, was jemand braucht, ist aber immer ganz konkret.
„So viel du brauchst“. Das ist immer ganz konkret. An einem anderen Tag in der Gemeindearbeit war es für mich überraschenderweise „Milchreis“. Es war ein Besuch im Krankenhaus. Man hatte mich vorgewarnt. Ein Leben ging langsam aber sicher zu Ende. Ich war auf alles Mögliche eingestellt, aber nicht auf Milchreis. Die Patientin saß gebeugt auf dem Bett. Nicht mehr viel Luft zum Atmen und darum auch nicht mehr viele Worte möglich. Einige Schläuche verschwanden im Nachthemd, durch die Nase wurde Sauerstoff zugeführt. Sie saß, hing eher so auf der Bettkante. Ich ihr gegenüber. Sie winkte mich mit einer kleinen Fingerbewegung neben sich. Ich setzte mich vorsichtig neben sie und durch mein Körpergewicht sank sie von rechts her gegen meine Schulter. Ich nahm sie in den Arm, ihren ganzen dünnen Körper, damit sie nicht fiel. Sie schaute mich an und hob kurz lächelnd einen Mundwinkel. So saßen wir nebeneinander.
Ich merkte, dass sie all ihre Kraft sammelte für einige Sätze. Durchatmete, Kraft sammelte. Eine ganze lange Weile, etliche Minuten saßen wir so auf der Bettkante. So wie es war, war es in diesem Moment gut. „So viel du brauchst“, war auch hier einfach konkret. „Milchreis“, flüsterte sie und atmete einige Züge. „Milchreis. Hätte ich gerne. Die können das hier nicht.“ Nach diesen Worten schloss sie die Augen und konzentrierte sich wieder auf die Atmung. Später hörte ich dann im Schwesternzimmer, dass die Patientin sich Milchreis gewünscht hatte, so wie von früher, aus den Zeiten ihrer Kindheit. Sie hatten´s auch aus der Krankenhausküche angefordert, aber es war anders gewesen, als sie gehofft hatte. Irgendwie wässrig, Sie hatten's ja versucht, aber die Großküche hatte wohl nicht das richtige Rezept.
„So viel du brauchst“ - in diesem Fall war es Milchreis. So wie von früher. Ordentlich fett mit Zimt und Zucker drauf. Den Milchreis habe ich dann gemacht, am nächsten Tag. Und in einem Henkelmann mitgebracht bis in dieses Krankenzimmer, wo die Luft knapp wurde und die Zeit auch. Und die Frau hat´s gegessen. Sehr langsam und bedächtig. Und vielleicht sogar die Schläuche für kurz vergessen und den Abschied und nur gegessen und geatmet und die Augen zu gemacht vor Genuss. „Wenn ich oben bin, halte ich Ihnen die Tür ein Stückchen auf“, hat sie schließlich geflüstert. Und sich dann erschöpft hingelegt und sich auf die Atmung konzentriert. Nach Zimt hat´s geduftet. „So viel du brauchst“, das ist immer ganz konkret.
„So viel du brauchst“ ist das Motto vom Kirchentag. Vier Tage haben Christen in Hamburg darüber diskutiert. In ein paar Stunden ist der Abschlussgottesdienst. Dann geht es wieder nach Hause und das Erlebte kann in Taten umgesetzt werden. „So viel du brauchst“ ist ein kleiner Satz aus einer biblischen Geschichte. In der geht es um das richtige Maß. Es ist eine Geschichte, wie Gott sein Volk in der Wüste mit Essen versorgt. Mit Manna, einer Art Honigtau, zuckerreiche Wassertröpfchen, milchigweiß, der in der Wüste auf besondere Art entstehen kann. Durch die göttliche Routenplanung finden die Israeliten in der Sinaiwüste etwas zu essen. Manche raffen ganz viel, andere begnügen sich. Das zu viel Geraffte ist am Abend verdorben. „So viel du brauchst“ meint: Gott sorgt für dich. Es ist so viel da, wie du brauchst. Und gebrauche eben nur so viel, wie da ist. Eben, das richtige Maß.
„So viel du brauchst“ - meint für mich auch: mich umschauen. Was Menschen um mich brauchen. Wonach jemand lechzt, verlangt, dürstet und hungert. Das kann Nahrung sein, einfach etwas zu essen als Grundbedingung jeden Lebens. Das kann einfach Zeit für praktische Unterstützung sein. Wie für die beiden Jungs mit dem verlorenen Schlüssel. Das kann Milchreis im Krankenhaus sein. „So viel du brauchst“ das ermuntert, sich den eigenen Bedürfnissen zu stellen, sein Maß zu finden. Und zu sehen, was der Mitmensch braucht. Es ist genug davon da, was Gott geschenkt hat und immer wieder schenkt.