hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Jens und die Spur seines Gewissens

Jens und die Spur seines Gewissens

Seit Monaten hat Jens ein schlechtes Gewissen. Jedenfalls kommt ihm das so vor. Dabei weiß er gar nicht, warum. Eigentlich ist bei ihm alles im Lot: Familie, Freunde, Arbeit. Jens ist Gott dankbar. Es läuft nicht immer alles rund, wie man so sagt, aber wo tut es das schon. Unterm Strich könnte Jens zufrieden sein. Ist er aber nicht. Da ist ein Unwohlsein. Kein schlimmes Gefühl, aber so eine merkwürdige Unzufriedenheit unter der Zufriedenheit. Die Oberfläche ist ruhig und glatt, aber in der Tiefe brodelt es ein bisschen.

Manche Dinge machen ihm weniger Spaß als früher. Er macht sie und lacht mit, wenn alle lachen, aber so richtig bei der Sache ist er nicht. Er war mit seiner Frau beim Frühlingsball im Sportverein; mit den Kindern war er im Kino; bald ist wieder Konfirmation in der Familie und was man so alles macht. Viel ist das. Er könnte fast jeden Abend woanders sein. Und erst am Wochenende. Hier ein Ostermarkt, dort ein Frühlingsfest, mal zum Gottesdienst oder zum Bundesligaspiel mit den Kollegen. Man kommt wenig zur Ruhe. Das war lange Zeit schön. Jetzt nicht mehr so sehr. Jens hat manchmal das Gefühl, ihm gehe ein wenig die Puste aus. Und dann dieses seltsame Gefühl unter der Oberfläche, das Jens wie ein schlechtes Gewissen vorkommt. Was mag denn los sein, fragt er sich?

MUSIK

Seit Monaten ist das jetzt so mit dem seltsamen Gefühl. Als knirsche es plötzlich im Getriebe des Lebens, das bislang nur schön war. Jens sucht Fehler und findet sie nicht. Aber er sucht weiter. Eines Tages entdeckt er eine kleine Spur. Wer viel fragt, kriegt ja irgendwann auch Antwort. Jedenfalls den Anfang einer Antwort, an der man selber weiterdenken kann.

Jens sitzt da mit zwei Freunden beim Bier. Das machen sie manchmal auf dem Weg nach Hause. Eine halbe Stunde zum Abschwellen vom schweren Dienst in der Versicherung. Einer der beiden liest gerne und redet manchmal darüber. Jens hört nicht richtig zu. Nur ein Wort macht ihn auf einmal hellhörig. Sein Kollege hat das Wort „Gewissen“ benutzt. Da zuckt es in Jens. Er fragt noch einmal nach: Was hast du eben vom Gewissen gesagt? Der antwortet, er habe in einem Kalender etwas über das Gewissen gelesen. Den Satz eines Schriftstellers, der ungefähr so lautet: Alles wird immer flacher, weil man so das Gewissen abschaffen will.

Wieder zuckt etwas in Jens. Er bittet den Kollegen, ihm den Satz doch mitzubringen ins Büro; das interessiere ihn. Der Kollege staunt über das Interesse und verspricht, Zuhause nach dem Kalenderblatt zu suchen. Als das Bier alle ist, geht Jens nach Hause und schläft nicht so gut. Was soll denn sein mit seinem Gewissen?

MUSIK

Jens hat Glück; der Kollege ist zuverlässig, bringt schon am nächsten Tag das Blatt und den Spruch mit ins Büro. Jens hat jetzt schwarz auf weiß, was der amerikanische Schriftsteller Saul Bellow geschrieben hat, vor vielen Jahren schon: Banalität ist die Tarnung eines kräftigen Willens, das Gewissen abzuschaffen.* Jens versteht das nicht gleich, deswegen liest er sich den Satz mehrmals laut vor: Banalität ist die Tarnung eines kräftigen Willens, das Gewissen abzuschaffen. Wieder hängt er an dem Wort Gewissen.

Tage später, ganz allmählich, dämmert ihm, was mit ihm los sein könnte. Es geht gar nicht um ein schlechtes Gewissen, das bei ihm anklopft. Es ist überhaupt sein Gewissen. Da meldet sich etwas, das ziemlich unzufrieden ist. Jens nimmt sich in der Mittagspause ein Blatt Papier und schreibt, was er in den letzten Wochen so nebenbei abends und am Wochenende gemacht hat, manchmal gerne, manchmal lustlos. Und was ihm das gebracht hat. Unterhaltung hat es gebracht, meistens, selten eine gute. Gewonnen hat er wenig, merkt er. Abgelenkt hat er sich viel. Während er alles aufs Papier schreibt, wird ihm mehr und mehr klar, was ihn stört. Ich lenke mich zu oft ab und denke weniger nach, sagt er sich. Je weniger ich weiß, meine ich wohl, desto reiner und stiller kann mein Gewissen bleiben. Das stimmt aber nicht, merkt er jetzt, denn das Gewissen regt sich trotzdem. Und dann, die Mittagspause ist schon zu Ende, schreibt er sich auch auf: Überall und immer soll Spaß sein, damit keiner mehr seine Verantwortung spürt - oder sie gleich ganz vergisst.

MUSIK

Heute ist Jens auf seiner neuen Spur. Er sagt „Spur seines Gewissens“ dazu. Er will sich nicht mehr betäuben. Das war‘s, sagt er heute, was ihn beschäftigt hat. Der Spaß, die Unterhaltung und Belustigungen – alles ohne Verantwortung. Spaß haben und Heimgehen. Ist mal ganz schön, zugegeben. Aber immer und überall? Abends und am Wochenende? Wo bleibt das Gewissen? Meine Verantwortung für mich, meine Lieben und die Welt?

Wenn das Gewissen anklopft, schreibt sich Jens auf ein anderes Blatt Papier, wenn das Gewissen anklopft, sollte man es besser nicht überhören, sondern freundlich ‚Herein‘ sagen. Wenn sich das Gewissen regt, könnte es Gott sein, der etwas sagen oder zeigen will. Wie sonst sollte Gott sich bemerkbar machen, wenn nicht durch mein Gewissen? Jens hat das Gefühl, dass die neue Nachdenklichkeit wichtig ist für ihn. Zwei Dinge hat er sich vorgenommen für die Zukunft: Zum einen: Er will Dingen mehr auf den Grund gehen. Nicht einfach hinnehmen, abhaken und zum Nächsten laufen. Sondern mehr nachdenken, nach dem Warum fragen und danach suchen, ob Veranstaltungen und Erlebnisse mehr Sinn haben als nur Ablenkung. Und das andere: Nur die Hälfte von dem tun, was ihm angeboten wird. Ich brauche mehr Luft für mich, sagt er, muss mehr auswählen. Je weniger ist, desto genauer kann ich dem hinterher denken und dem nachgehen, was man so Zufall nennt. Ist ja womöglich keiner. Da soll mein Gewissen wacher werden.

Seltsam ist: Jens fühlt er sich reicher, seit weniger los ist. Gewissenspflege nennt er das. Einfach mal vor sich hin schauen und den Sinnen freien Lauf lassen. Spazierengehen auf der Spur des Gewissens. Einmal hat er doch tatsächlich das Gefühl, Gott habe ihn dabei an der Hand. Erzählt hat er das keinem. Das versteht bestimmt niemand, hat er gedacht.

Dabei könnte es doch stimmen.

 

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* Saul Bellow (1915 – 2005)
in: Mr. Sammlers Planet, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 1970

wörtlich:
Banalität ist die aufgelegte Tarnung eines sehr kräftigen Willens,
das Gewissen abzuschaffen.