Glück ist nicht nur Glückssache
Stellt man zehn Leuten die Frage, was sie glücklich machen würde, bekommt man wahrscheinlich zehn unterschiedliche Antworten. Der eine wünscht sich ein Leben ohne Angst vor Abschiebung, der andere träumt vom Auswandern nach Alaska. Viele würde es glücklich machen, den Krebs zu besiegen, und andere, wenn sie eine kosmetische Operation bezahlen könnten. Glück zu beschreiben, ist nicht einfach. In der ARD wurde gestern eine Themenwoche gestartet mit dem Titel »Zum Glück«. Schulprojekte, Fernsehshows und Reportagen sollen anregen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was ein glückliches Leben ausmacht. Familien konnten sich gestern schon mal einen Märchenfilm ansehen, »Hans im Glück« nach den Brüdern Grimm. Märchen versteht jeder könnte man denken. Aber ausgerechnet bei »Hans im Glück« stimmt das nicht. Das Original-Märchen ist zwar eine kurze und witzige Geschichte. Aber die Handlung ist so seltsam unlogisch, dass nicht jeder sie nicht auf Anhieb versteht.
Kurz gefasst geht das Märchen so: Hans hat seinem Meister sieben Jahre gedient und möchte nun wieder heim. Er bittet um seinen Lohn und bekommt wegen seiner Treue einen Goldklumpen, groß, wie sein Kopf. Glücklich geht er los. Nach einer Weile wird das Wandern mit dem Gold-Klumpen beschwerlich. Da begegnet ihm ein Reiter, und Hans denkt laut, dass ein Pferd ihm den Weg viel leichter machen würde. Der Reiter schlägt vor, das Tier gegen das Gold zu tauschen. Hans nimmt überglücklich an. Wenig später geht ihm der Gaul durch und wirft ihn ab. Ein Bauer, der seine Kuh zum Markt treibt, bringt ihn auf die Idee, dass er immer Milch dabei haben könnte. Wieder wird getauscht und Hans ist erneut glücklich. Dann bekommt er Durst, und will die Kuh melken. Aber die ist alt und gibt keine Milch mehr. Aber dafür gibt sie ihm einen schmerzhaften Tritt. Ein Metzger mit Ferkel hilft ihm auf die Beine. Und so geht es weiter, den ganzen Tag lang. Die Kuh tauscht Hans gegen das Ferkel, das gegen eine Gans, und die gegen einen Schleifstein. Über jeden Tausch freut sich Hans, wie über einen großen Glücksfall. Am Ende ist vom anfänglichen Goldklumpen ist nichts mehr übrig. Und als der viel zu schwere Schleifstein zum Schluss noch in einen Brunnen fällt., da kniet Hans nieder, von dieser letzten glücklichen Wendung ganz überwältigt, und dankt Gott, weil der ihm auf dem Weg immer wieder weitergeholfen, und ihn zuletzt von jeder Last befreit habe. Nun fühlt er sich endgültig als Glückskind! Ein seltsames Märchen zum Thema Glück. Hans wird immer glücklicher, obwohl er betrogen und geschädigt wird, bis er mit nichts nach Haus kommt. Auf was will die Geschichte eigentlich hinaus? Gibt sie wirklich einen Tipp zum glücklich sein?
»Hans im Glück« fällt als Märchen aus der Rolle. Denn dort treten keine sprechenden Tiere auf, keine Zauberer, oder Feen, die auf wundersame Weise Wünsche erfüllen. Vielleicht ist »Hans im Glück« im strengen Sinn gar kein Märchen. Die Brüder Grimm hatten es zwar 1818 in einer Zeitschrift entdeckt und ein Jahr später in ihre Sammlung von »Kinderund Hausmärchen« aufgenommen. Aber deshalb muss es ursprünglich nicht als Märchen gedacht gewesen sein. Märchen haben oft eine eindeutige Schwarz-Weiß-Moral. »Hans im Glück« dagegen ist mehrdeutig. Es ist unklar, ob Hans bedauernswert oder zu beglückwünschen ist, ob er ein Vorbild sein soll, oder eine Abschreckung. Die Handlung ist genauso unklar. Finanziell handelt Hans wie ein Vollidiot. Und als Mensch erscheint er so naiv, dass man nicht weiß, ob man die Geschichte tragisch oder komisch finden soll. Dennoch klebt an Hans das Glück, wie an anderen das Pech. Auf welche Spur sollen diese Widersprüche den Leser bringen? Wird hier der naive Optimist als glücklicher Gewinner angepriesen, der in allem nur das Gute sieht, und vor dem Schlechten die Augen zumacht, damit er glücklich wird? Oder ist das Märchen vielleicht eine Variante zu dem Spruch »das Glück ist mit die Doofen»?
Es gibt auch Deutungen, die dem Märchen einen wichtigen Gedanken abgewinnen, und einen aktuellen dazu. Nämlich, dass Besitz nicht nur zur Vermehrung des Besitzes da ist, sondern, um die Belastungen und Probleme zu lösen, die gerade aktuell sind. Finanzielle Gewinne und Sicherheiten waren ja immer schon trügerisch. Auch vor der Finanzkrise. Besser ist es, da zu helfen, wo es nötig ist. Das macht Menschen glücklich. Auch die, die helfen. Geld ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr1, sagt man. Auch Hans versteckt sein Gold nicht, oder versucht, ein größeres Vermögen daraus zu machen. Er setzt es dafür ein, seine aktuellen Probleme zu lösen. Die Verlustgeschäfte sind ihm dabei nicht so wichtig. Viel wichtiger ist es, weiter zu kommen, sich jetzt das Leben zu erleichtern. Das macht ihn glücklich. Kann es sein, dass dieses Märchen geschickt und humorvoll den Wohlstandsglauben auf den Kopf stellt, und das schon seit zweihundert Jahren? Statt immer nur anzuhäufen und festzuhalten, wird hier ausgegeben und eingesetzt. Und das Ergebnis ist Glück. Was, bitte, ist so schlimm an Verlusten in meiner Bilanz? Ich kann es doch auch so sehen: Weniger Besitz macht auch weniger Sorgen, sorgt also für mehr Glück. Nur heute kann ich leben und genießen. Nur jetzt kann ich einsetzen, was ich habe. Einen solchen Tipp hält sogar die Bibel bereit. Er ist schon dreitausend Jahre alt: Besser wenig mit der Furcht des Herrn, als ein großer Schatz, bei dem Unruhe ist. Besser ein Gericht Kraut mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Hass.
Glücksforscher wissen längst, dass glückliche Menschen ein paar Dinge gemeinsam haben. Eins davon ist, dass sie weder der Vergangenheit nachhängen, noch alles in die Zukunft investieren. Sie wollen ganz bewusst jetzt leben. Glückliche Menschen können den Augenblick genießen. So wie Hans im Glück. Wer sich auf das konzentriert, was gerade passiert, wer ganz da ist und sich ganz einsetzt, lebt erwiesenermaßen glücklicher. Der berechnet vielleicht nicht immer die Folgen, aber er lebt mit Tiefgang. Sowas macht glücklich. Das kann auch bedeuten, Mittel zu investieren, wo sie gerade gebraucht werden. Zum Beispiel auf den Philippinen. Mag ja sein, dass in Krisengebieten manches versickert. Aber in dem Märchen wird dem Hans nicht das Glück verdorben, nur weil er Verluste macht. Im Gegenteil. Warum sollten wir uns verderben lassen, das zu tun, was auf der Hand liegt? Ich gebe doch nur her, was ich ohnehin nicht behalten kann. Einmal ist ja Schluss. Und dann will ich meine Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Für mich und für andere. Die Bibel drückt sich noch etwas krasser aus: Nackt kommt der Mensch zur Welt, und nackt geht er wieder, und trotz aller Mühe kann er nichts mitnehmen.3 Warum tun wir uns so schwer mit dem Geld und mit dem abgeben? Der Autor des »kleinen Prinzen», Antoine de Saint-Exupery, meinte: Wer glücklich reisen will, reise mit leichtem Gepäck.
Wer darauf verzichtet, sich nur um seinen Wohlstand oder seine Sicherheit zu kümmern, ist nicht etwa dumm, sondern konzentriert sich auf das Wesentliche. Auch diese Haltung haben glückliche Menschen gemeinsam. Sie lassen weg, was nicht so wichtig ist. In den westlichen Industrieländern haben wir fast unbegrenzte Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Wir haben Ansprüche und kennen unsere Rechte. Wir werden in dem Glauben gelassen, alle Bedürfnisse könnten sofort befriedigt werden. Aber merkwürdigerweise gibt es immer weniger Menschen, die glücklich und zufrieden sind. Wohlstand und Vermögen haben eine schleichende Nebenwirkung. Die Fähigkeit stumpft ab, Freude zu empfinden oder wirklich zu genießen. Weil wir nur noch etwas hinterher jagen und nicht mehr stehenbleiben können. Aber das Leben spielt sich jetzt ab. Gestern ist vorbei, morgen ist noch nicht da, die wichtigste Zeit ist jetzt. Und diese Zeit will ich nicht wahllos verplempern, sondern tun, was dran ist. Eine Herausforderung annehmen, die mein Talent fördert. Einen Abend bei Freunden genießen. Etwas tun, worauf ich stolz sein kann. Hans im Glück Danke für die Erinnerung. Glück ist nicht nur Glücksache.