Das Licht der Welt
Im Sommer stehe ich sonntags gerne früh auf. Ich liebe diese hellen, kurzen Nächte, wenn schon früh das Tageslicht meine Augen weckt. Heute Morgen ist die Sonne hier in Darmstadt schon um 5:17 Uhr aufgegangen. Sie wird ihre Bahn über den Himmel ziehen und heute Abend erst um 21.38 Uhr wieder untergehen. Wir erleben an diesem Wochenende die Tage mit dem meisten Licht dieses Jahres. Und der kürzesten Dunkelheit. Zusammen mit den Dämmerungsstunden ist es länger als 18 Stunden hell.
An vielen Orten wird der Sommer mit seinem Licht in freudigen Festen begrüßt. Je größer der Unterschied zwischen dem harten Winter und dem warmen Sommer ist, desto intensiver feiert man diesen Tag. In Schweden wird überall ausgiebig das Midsommarfest gefeiert. In Dänemark und Norwegen als Sankt Hans-Fest, in Spanien als San Juan, hier in Deutschland als Johannisfest, an dem nach alten Bauernregeln der Sommer beginnt. Im Sommer mit seinen hellen Tagen fühlen viele Menschen zufriedener als im dunklen und kalten Winter. Licht macht optimistisch, es hellt die Stimmung auf.
Im Religionsunterricht in der Schule mache ich darum manchmal das Licht zum Thema. In einer Stunde im Sommerhalbjahr zogen wir dafür die Vorhänge zu, so dass es im Klassenzimmer ziemlich dunkel wurde. Die Schülerinnen und Schüler erzählten, was sie mit Licht und Dunkelheit verbinden. Manche brauchten, immer ein bisschen Licht im Kinderzimmer, als sie klein waren, damit sie einschlafen konnten. Im Dunkeln fürchteten sie sich. Dann zündeten wir in der Klasse eine Kerze an und merkten, wie das Licht auf uns wirkt: Hell sagten manche, warm, und lebendig. Ein Junge sagte nachdenklich: Im Dunkel sieht man das Licht besser.
Es hängt mit der Urerfahrung zusammen: Nachts kann der Mensch nur schlecht sehen. Schon in der Dämmerung wird man verletzlich und unsicher. Die Dunkelheit macht darum Angst. Heute können wir auf Knopfdruck Licht bekommen. Viele Jahrtausende war das unvorstellbar. Nur offenes Feuer, Öllampen oder Fackeln konnten die Dunkelheit erhellen. Raubtiere wie Wölfe, Bären oder Löwen, die vor allem in den Dämmerungs- oder Nachtstunden jagen, stellten darum eine Bedrohung für jede menschliche Ansiedlung dar.
Tod und Raub drohen in der Nacht auch durch menschliche Übeltäter. Sie können sich im Schutze der Dunkelheit unbemerkt anschleichen. Licht und Leben gehören darum in fast allen Kulturen genauso zusammen wir Dunkelheit und Furcht. Die Bibel sagt in der Schöpfungsgeschichte: Das war von Anbeginn so.
In der Schöpfungsgeschichte sind Tag und Nacht das Werk Gottes. „Die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe“; so heißt es in der Bibel, dann schuf Gott das Licht, „und Gott sah, dass das Licht gut war.“ (1. Mose 1,2-5) Im Vertrauen auf Gott, der das Licht erschaffen hat, betete ein Gläubiger im 36. Palm vor dreitausend Jahren zu Gott: „Bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht.“ (Psalm 36,10)
Die Sommersonnenwende kommt so in der Bibel nicht vor. Aber im Neuen Testament wird erzählt, dass die Mütter von Johannes und Jesus sich einmal trafen. Da war Elisabeth, die Mutter von Johannes, im sechsten Monat schwanger. Und Maria hatte gerade von ihrer Schwangerschaft erfahren. Also war Johannes ein halbes Jahr älter als Jesus. Und weil Jesu Geburtstag in der Nähe der Wintersonnenwende am 24. Dezember gefeiert wurde, bekam Johannes sozusagen die Sommersonnenwende zugeteilt. Das passt auch zu seiner Botschaft. Denn Johannes war ein Wegbereiter für Jesus. Er soll gesagt haben: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ (Johannes 3,30)
Johannes ging es dabei wie der Sonne. Auch sie wird nun "abnehmen" und weniger leuchten, die Tage werden wieder kürzer. Und das bedeutet im Jahreskreis: Wir bewegen uns auf Weihnachten zu - auf den 24. Dezember. Der Johannistag 24. Juni erinnert schon jetzt daran: Wenn es später dunkelwird, kommt ein neues Licht. Dieses Licht heißt - Jesus Christus.
Am 24. Dezember, wenn die Geburt Jesu in der Nacht gefeiert wird, geht es wieder bergauf, die Zahl der Sonnenstunden nimmt zu. Das Licht mitten im Winter hilft vielen, durch die kalte Winterzeit mit ihren Entbehrungen zu kommen. Die Hoffnung ist da, dass Kälte und Eis zurückweichen werden und neues Leben wachsen kann. Aber beim Licht geht es nicht nur um Natur und Jahreszeiten. Es geht auch um die menschliche Seele. Wir sagen zum Beispiel: „Seine Augen leuchteten, oder: Ihr Gesicht begann zu strahlen, wenn wir die Freude von jemandem beschreiben wollen.
Wenn jemand hellwach ist, dann ist er aufmerksam dabei. Wir sprechen von einem leuchtenden Vorbild. Gewinnt man eine neue Erkenntnis, so hat man einen Lichtblick. Und ein alter Schlager wünscht: „Hab Sonne im Herzen.“ Auf der anderer Seite: Jemand, der sich ärgert, dessen Miene verfinstert sich. Vielleicht ging einem schlimmen Ereignis eine dunkle Vorahnung voraus. Menschen, die in die Irre gehen, tappen im Dunkeln. Spielt vielleicht darum das Licht auch in fast allen Religionen eine wichtige Rolle?
Alle großen Religionen lehren, dass man sein Leben nicht in der Finsternis verbringen soll, sondern im Licht. Da stimmen Judentum, Christentum und Islam überein. An dieser Licht-Symbolik kann man die gemeinsamen Wurzeln im Alten Testament erkennen. Im Buch des Predigers Salomo heißt es: „Die Weisheit übertrifft die Torheit, wie das Licht die Finsternis.“ Der Prophet Jesaja verkündet ein kommendes Licht, das Frieden und Gerechtigkeit heraufführen soll. Er schreibt: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die wohnen im finsteren Lande, scheint es hell.“ (Jesaja 9,1) Es ist vermutlich eine dieser Verheißungen, auf die Jesus sich berufen hat, als er von sich sagte: „Ich bin das Licht der Welt.“ (Johannes 8,12) Und auch seine Nachfolger sieht er so: „Ihr seid das Licht der Welt“.
Auch im Koran sollen die Gläubigen erleuchtet werden. In Sure 2 heißt es: „Allah ist der Freund der Gläubigen: Er führt sie aus Finsternissen ans Licht.“ (Sure 2,257 und 5,16) Und im Buddhismus spielt die Licht-Symbolik auch eine Rolle. Im Buddhismus geht es darum, Leid zu überwinden und sein Glück zu finden. Das Endziel der geistigen Entwicklung ist die Erleuchtung. Der Buddhismus lehrt: Dazu muss man seinen Geist schulen. Die Natur des Geistes ist „klares Licht“. Der Geist kann aber getrübt sein oder verblendet. Aufgabe der Gläubigen ist es darum, ihren Geist immer wieder zu reinigen, so wie man auch trübes Wasser reinigt.
Menschen suchen also überall auf der Welt in ihrem Glauben nach Wegen, um ein gutes Leben führen zu können, Sinn und Hoffnung in ihrem Handeln zu finden, Konflikte zu bewältigen. Zeiten der Finsternis haben Völker überall auf der Erde erlebt, durch Katastrophen und Kriege. Das Licht, von dem die Religionen sprechen, zeigt den Menschen Wege zum Frieden statt Krieg.
Wer die Lehren des Glaubens kennt, kann auf das Licht vertrauen. Es hilft im eigenen Leben durch dunkle Zeiten mit Problemen oder Traurigkeit. Es ist größer als alle Dunkelheit. Auch wenn man durch ein finsteres Tal wandert (Psalm 23,4). Gott schuf das Licht als Kraft, die das Leben ermöglicht. So, wie der Schüler gesagt hat: „Im Dunkel sieht man das Licht besser.“ Bei Licht betrachtet, ist bestimmt ein guter Weg zu finden.