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Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

Wer kann heilen?

Wer kann heilen?

Am Freitag hätte die berühmte Soulsängerin Amy Winehouse ihren 29. Geburtstag feiern können. Hätte – denn sie lebt nicht mehr. Vor gut einem Jahr wurde sie in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Ihr Blut enthielt weit über vier Promille Alkohol – eine tödliche Dosis. Persönlich kenne ich Amy Winehouse nicht. Trotzdem hat mich ihr früher Tod traurig gemacht. Als Christ sehe ich in ihr wie in jedem Menschen die unverwechselbare Idee Gottes. Deshalb finde ich: Kein Leben soll verloren gehen. So lautet auch der Anspruch, der Traum der Diakonie. Die Diakonie ist der karitative Arm der evangelischen Kirche. Sie versucht Menschen zu helfen, wenn sie sozial, seelisch oder medizinisch in Not geraten sind. Leider gelingt das nicht immer. Amy Winehouse ist nur eine von vielen, die doch verloren gehen. Und jedes Mal fragt man sich: Wer oder was hätte ihnen helfen können zu leben?

Als Amy Winehouse starb, waren viele Menschen traurig. Aber gewundert hat sich kaum jemand. Viele wussten: Die Sängerin mit dem langgezogenen Lidstrich und den auftoupierten schwarzen Haaren trank viel zu viel Alkohol. Und das schon seit langem. Ihre Familie und ihre Freunde standen um sie herum - hilflos, traurig und wütend. Diese Gefühle kennen alle, die einen solchen Fall in ihrer Umgebung miterleben.

Amy Winehouse war eine begnadete Sängerin. Kaum 23jährig war sie bereits weltweit berühmt. Schon als junge Frau hatte sie mehr erreicht, als viele andere für sich auch nur zu erträumen wagen. Doch das hat sie nicht glücklich gemacht. Sie war depressiv. Sie durchlebte Zeiten quälender Dunkelheit. Wie sich das anfühlt, können Gesunde nur schwer ermessen. Der Psalm 69 versucht es so in Worte zu fassen:

Das Wasser steht mir bis zur Kehle. Ich versinke im tiefen Schlamm wo kein Grund ist. Ich bin in tiefe Wasser geraten und die Flut will mich ersäufen. Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser.
(Psalm 69, 2+3)

Amy Winehouse, die Sängerin mit der rauchigen Stimme, mag so oder so ähnlich gefühlt haben. Vielleicht sogar schon ganz lange. Denn sie war kein fröhliches und auch kein entspanntes Kind. Sie war aufmüpfig und eckte an. Eine Portion Rebellentum kann nicht schaden. Doch Amy Winehouse musste sechs Mal die Schule wechseln. Ein Studium brach sie ab. Vor jedem Auftritt hatte sie mit heftigem Lampenfieber zu kämpfen. Die Bühne zog sie magisch an und machte ihr zugleich panische Angst.

Einblicke in ihr zerrissenes Seelenleben gab sie in dem Lied „Rehab“. Rehab – das steht im Englischen für Rehabilitation, auf Deutsch kurz: Reha. Im Klartext: Entziehungskur. Dieses Lied brachte ihr im Oktober 2006 den internationalen Durchbruch. Es war zugleich eine beklemmend realistische Vorausschau auf ihren Tod.

Sie haben versucht mich dazu bringen, in die Entzugsklinik zu gehen. Aber ich sagte: Nein, Nein, Nein. Ja, ich stand im Dunkeln, aber wenn ich zurückkomme, nein nein nein. Ich hab nicht die Zeit. Und wenn mein Vater denkt, mir geht‘s gut .....Sie haben versucht mich dazu zu bringen, in die Entzugsklinik zu gehen. Aber ich werde nicht gehen.

Amy Winehouse will keinen Entzug machen. Sie denkt, dass sie es auch alleine schaffen kann. Alles halb so schlimm. Doch wie bei vielen Abhängigen springen ihre Gedanken hin und her. Zwischendurch sieht sie ihre verzweifelte Lage ganz klar. In der ersten Strophe des Liedes „Rehab“ zeigt sich Amy Winehouse als selbstkritische junge Frau. Sie weiß, wie es um sie steht. Sie lässt erkennen, dass sie in der Schule wenig mitbekommen hat. Sie gibt zu: Bildung und Lebenskunst kommen nicht aus einem Schnapsglas. Sie singt von ihren musikalischen Vorbildern. Einen nennt sie nur mit dem Vornamen Ray. Vermutlich meint sie Ray Charles, ebenfalls ein begnadeter Soulsänger, der heroinsüchtig war, davon aber loskam. Außerdem nennt sie Mr. Hathaway. Damit meint sie sicher Donny Hathaway. Auch er war ein berühmter Soulsänger. Er litt an Depressionen und wurde 1979 im Alter von 33 Jahren tot aufgefunden. Bemerkenswert, dass die gerade einmal 23jährige Amy sich bereits so gut mit den tragischen Gestalten der Soulgeschichte auskennt. Ihnen eifert sie nach - leider auch in Sachen Drogen. Hätte sie doch den Weg von Ray Charles eingeschlagen. Der hat irgendwann gemerkt: Drogen oder Leben. Er entschied sich für das Leben und schaffte den Entzug. Es ist möglich da rauszukommen!

Ich wäre lieber zu Hause mit Ray. Ich habe keine 70 Tage, denn da ist nichts, nichts, dass ihr mir beibringen könnt, dass ich nicht von Mr. Hathaway lernen könnte. Hab nicht viel im Unterricht mitbekommen, aber ich weiß, es kommt nicht in einem Schnapsglas.

Ob jemand Amy Winehouse hätte helfen können? Eltern, Freunde? Leute um sie herum? Vielleicht. Doch zunächst einmal waren sie hilflos. Wie so viele in ähnlicher Lage. Es ist furchtbar, neben einem leidenden Menschen zu stehen und nichts tun zu können. Bei Drogen- oder Alkoholabhängigen ist es besonders schlimm. Man sieht einen Menschen, der eigentlich gut leben könnte. Aber er tut es nicht. Er zerstört sich nach und nach selbst. Das kann über Jahre gehen. Immer wieder greift er zu Drogen. Da hilft kein Flehen der Mutter, keine Warnung der Ärzte, keine Drohung der Freunde. Die ganze Fürsorge nutzt nichts. Im Gegenteil. Sie kann sogar schädlich sein. Das sagen Dogenberater der Diakonie. Sie raten Müttern, Vätern und Geschwistern dringend davon ab, ihre alkohol- oder drogenabhängigen Familienmitglieder immer wieder aufzufangen. So grausam es klingt, aber die größere Liebe ist es, sie auf die Nase fallen zu lassen. Nur so merken sie, dass sie wirklich Hilfe brauchen. Und diese Hilfe kann nicht aus der Familie heraus kommen. Im Gegenteil: Nicht selten benötigen die Familiemitglieder selbst Hilfe, um mit ihrer Situation fertig zu werden. Heilung müssen andere bringen. Das können Selbsthilfegruppen sein wie die anonymen Alkoholiker oder eben Entzugskliniken.

Amy Winehouse hat es offenbar versucht. Sie war in einer Klinik und hat ein Gespräch geführt. Auch darüber singt sie in ihrem Lied „Rehab“:

Der Mann sagte, warum denkst du, bist du hier? Ich sagte, ich hab keine Ahnung. Ich werde, ich werde meinen Liebling verlieren, also behalte ich immer eine Flasche in meiner Nähe. Er sagte: „Ich denk einfach, du bist deprimiert.“ Ich: „Ja, mein Liebling und der Rest. Ich will nie wieder trinken, ich brauch, oh ich brauch einfach nur einen Freund. Ich werde keine zehn Wochen verbringen, damit alle denken, dass ich es schaffe. Es geht gar nicht um meinen Stolz. Es ist nur, bis diese Tränen getrocknet sind.

Für jeden Absturz, für jeden Rückfall gibt es einen aktuellen Anlass. Bei Amy Winehouse ist es die Trennung von ihrem Freund. Die muss sie nur verkraften, dann ist alles wieder gut. Denkt sie, beschwichtigt sie. Aber dann ist sie doch wieder so ehrlich zu sagen, dass es da noch einen Rest gibt. Eine seelische Wunde, die tiefer geht. Und die die Zeit nicht so einfach heilen wird. Was oder wer hätte ihr dabei helfen können? Schaffen muss das letztlich jeder für sich selbst. Andere können unterstützen, aber sie können das eigene Ringen nicht ersetzen.

Meditation kann dabei helfen. Das klingt überraschend. Aber Studien zeigen, dass es gut ist, wenn Menschen lernen, ihre Gedanken zu fokussieren, etwa durch Meditation. Das hilft, die endlosen und fruchtlosen Gedankenkreise der eigenen Sucht zu durchbrechen. Auch der Glaube an Gott kann helfen und heilen. Davon erzählt die Bibel. Dort ist eine verwundete Seele ein Zeichen dafür, dass das Verhältnis zu Gott gestört ist.

Irgendetwas hat den Menschen von Gott, also von der Quelle des Lebens, getrennt. Das bezeichnet die Bibel mit dem Wort Schuld. Es wird heute oft missverstanden, als sei damit etwas moralisch Verwerfliches gemeint. Aber das ist es in der Bibel gar nicht. Dort bezeichnet Schuld den Zustand, dass etwas einen Menschen von seinem heilen Leben trennt. Gott kann heilen, wenn der Betroffene ihn darum bittet. Ein Beispiel dafür ist der Psalm 69, den man in der Dunkelheit seiner Depression beten kann:

Gott, du kennst meine Torheit und meine Schuld ist dir nicht verborgen.  Errette mich aus dem Schlamm, dass ich nicht versinke, dass ich errettet werde vor denen, die mich hassen, und aus den tiefen Wassern, dass mich die Flut nicht ersäufe und die Tiefe nicht verschlinge und das Loch des Brunnens sich nicht über mir schließe. Erhöre mich, Herr, denn deine Güte ist tröstlich. Wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit.
(Psalm 69, 6+15-17)

Nicht immer wird ein solches Gebet erhört. Das ist die vielfache und traurige Realität dieser Welt. Doch es gibt eben auch die Realität des Psalm 69, der davon berichtet, dass Gott heilen kann. Dort heißt es am Ende:

Die Elenden sehen es und freuen sich, und die Gott suchen, denen wird das Herz aufleben. Denn der Herr hört die Armen und verachtet seine Gefangenen nicht.
(Psalm 69, 33+34)

Das kann passieren. Niemand kann das versprechen und auch nicht erzwingen. Man kann darum kämpfen, wie das die Menschen in der Diakonie tun, wenn sie Abhängige und ihre Familien beraten. Sie leben von der Hoffnung: Menschen können umkehren und einen anderen Weg einschlagen. Diese Hoffnung ist der Anfang vom Heilwerden.