hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Griesel, Tanja

Eine Sendung von

Evangelische Schulpfarrerin, Fritzlar

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Geschenkte Zeit

Eine Stunde geschenkt. Heute Nacht wurde die Uhr zurückgestellt. Von drei Uhr auf zwei. Eine Stunde länger schlafen, eine Stunde mehr Wochenende. Klingt gut. Aber während mein Mann die gewonnene Zeit genießt und sie genüsslich verschläft, bin ich genauso früh wach wie immer. Das heißt: nach der Zeitumstellung sogar eine Stunde früher als sonst. Die Zeit, die ich früher dran bin, vertrödele ich dann, bis sich der Rest der Familie aus den Betten quält. 

Nutzt die Zeitumstellung? 

Jedes Jahr das gleiche: Die Uhren werden im Frühjahr eine Stunde vorgestellt und im Herbst eine Stunde zurück – um den Alltag besser an das Tageslicht anzupassen. Ob das wirklich Sinn macht, daran scheiden sich die Geister. Manche würden die Zeitumstellung am liebsten abschaffen: diese Stunde, die sich heimlich in die Nacht schiebt. Der Nutzen ist umstritten. Die Auswirkung spürbar. Heute freue ich mich noch über die geschenkte Zeit, aber schon bald verwünsche ich sie. Nicht mehr lange und es ist wieder dunkel am Morgen. Der Tag fühlt sich schlagartig kälter an, schwerer. Der Sommer ist endgültig vorbei. Ich merke, wie mir das aufs Gemüt schlägt – jedes Jahr aufs Neue, obwohl ich längst weiß, was kommt.

Geschenk und Herausforderung

Die Zeitumstellung bringt viele aus dem Takt. Der Rhythmus verschiebt sich. Meine innere Uhr braucht für die Umstellung auf jeden Fall länger als die Zeiger auf dem Ziffernblatt. Für mich ist diese Stunde deshalb nicht einfach ein Geschenk. Sie ist auch eine Herausforderung. 

Aus dem Rhythmus gebracht

Ich denke an ein Gespräch mit einer älteren Dame. Sie lebt allein, seit ihr Mann gestorben ist. Seitdem schläft sie schlecht. Oft wacht sie schon um vier Uhr auf – und liegt dann stundenlang wach. An manchen Tagen schläft sie erst kurz vor dem Wecker wieder ein. Sie sagt: diese eine Stunde mehr jetzt am Wochenende macht ihr Angst. Die Nacht zieht sich dann noch länger als sonst. Die Gedanken kreisen im Dunkeln. Sie erzählt: „Da ist kein Termin am nächsten Tag, keine wirkliche Aufgabe, niemand, der etwas von mir will“. Trotzdem wartet sie innerlich. Aber worauf? 

Zeit kann ein Geschenk sein. Aber manchmal ist sie auch schwer auszuhalten. Besonders dann, wenn keiner weiß wofür. 

Wir holen uns die Stunde zurück 

Eine Stunde mehr. Eigentlich wird sie uns ja gar nicht geschenkt. Wir nehmen sie uns einfach wieder zurück, nachdem die Uhren im Frühjahr vorgestellt wurden. Heute wurden sie zurückgedreht. Wie eine Rückblende mitten in der Nacht. Eine Stunde, die schon vergangen war – und dann noch einmal beginnt.

Die Zeit zurückdrehen 

Manchmal wünschte ich, solche Rückblenden gäbe es nicht nur bei der Zeitumstellung, sondern: Sie wären tatsächlich möglich. Eine Stunde zurückreisen im Leben. Immer dann, wenn es nötig ist. Und dann: Noch einmal das sagen, was ungesagt blieb. Noch einmal anders reagieren, nicht so genervt, nicht so hart. Eine zweite Chance. Wäre das nicht wunderbar?

Diesen einen Moment noch einmal erleben 

Die ältere Dame mit den schlaflosen Nächten wünscht sich das auch: die Zeit zurückdrehen zu können. Ihr Mann ist in den frühen Morgenstunden gestorben. Das ist Jahre her – und doch wandern ihre Gedanken immer wieder in diese Nacht zurück. Am Abend davor war alles wie immer. Sie hat noch gelesen. Ihr Mann schlief bereits. Sie sagt: „In den Schlaf finden, war nie sein Problem und irgendwann sind mir dann auch die Augen zugefallen.“ Sie seufzt. „Wenn ich nur wach gewesen wäre. Vielleicht hätte ich noch etwas sagen können. Vielleicht hätte ich seine Hand halten können.“ Eine letzte Geste, ein letztes Wort. Es ist dieser eine Moment, den sie sich zurückwünscht. Eine Stunde, die nicht mehr kommt. Auch wenn sie weiß, dass sich Zeit nicht zurückdrehen lässt – der Wunsch danach bleibt. Sie sehnt sich danach. Hofft, so könnte sie Frieden schließen mit dem, was vergangen ist. 

Verpasste Chancen

Diese Sehnsucht: Verpasste Chancen, hadern mit der Zeit, die unwiederbringlich verloren ist: das haben Menschen zu allen Zeiten erlebt. Eine Weisheit der Bibel nimmt diese Erfahrung auf. Sie besagt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12) 

Meine Lebenszeit ist endlich

Diese biblische Weisheit beschönigt nichts. Aber es geht ihr auch nicht um Angst vor dem Tod. Sie erinnert schlicht daran: Meine Lebenszeit ist endlich. Und genau darin liegt ihr Wert. Jede Stunde, die vergeht, gehört zu mir. Die erfüllten genauso wie die stillen, die leichten wie die schweren. Ich kann nichts zurückholen – nur annehmen, was war.

Wie gelingt der Blick zurück?

Für die ältere Dame heißt das: Nicht nur fragen, was sie versäumt hat. Sondern auch sehen, was sie erlebt hat. Viele gemeinsame Jahre. Viele Abende. Viele Gespräche. Viel Nähe. Frieden schließen heißt: Die Zeit nicht nur zu vermissen – sondern auch zu würdigen. Und zu spüren: Sie war da. Sie war wertvoll.

Was fange an ich mit geschenkter Zeit?

Heute Nacht wurde uns eine Stunde geschenkt. Eine Stunde, die nirgends fehlt. Die plötzlich einfach da ist. Und weil Lebenszeit begrenzt und damit so kostbar ist, frage ich mich: Was fange ich mit dieser geschenkten Stunde an?

Ich könnte ein Buch lesen. Oder einfach liegen bleiben, mich noch einmal in die Decke kuscheln. Oder: Extra lange frühstücken. Für diese geschenkte Stunde habe ich keinen Plan. Und vielleicht ist das genau das Richtige. Eine Stunde, in der nichts getan werden muss. Kein Ziel. Kein Zweck. Nur Ruhe.

Tipps und Tricks zur Zeitumstellung

Ganz anders die ältere Dame. Sie hat sich auf die Zeitumstellung besonders vorbereitet. Sie hat mir erklärt: „Wenn ich zu früh aufwache oder wieder nicht schlafen kann, stehe ich einfach auf. Ich habe mein Strickzeug bereitgelegt, vielleicht lese ich auch. Und am Abend vorher trinke ich Lavendeltee mit Honig. Vielleicht hilft es ja.“ Dann hat sie noch einmal geseufzt. Und gesagt: „Ich nehme es, wie es kommt. Hab ja sowieso keine andere Wahl.“ Sie hat gelächelt – ein stilles, warmes Lächeln. Von dem Unmut über die Zeitumstellung ist in diesem Moment nichts mehr zu spüren.

Auch sie versucht nicht, diese Stunde möglichst effizient zu nutzen. Sie war vorbereitet – aber offen. Vielleicht hat sie durchgeschlafen. Vielleicht ist sie wach geblieben. Vielleicht wurde sie überrascht. Ich bin auf jeden Fall gespannt, wie es ihr heute Nacht ergangen ist.

Unerwarteter Freiraum 

Für mich fühlt sich diese zusätzliche Stunde an wie: Luft holen. Ein unerwarteter Freiraum.
Die Zeitumstellung ist für mich ein Anlass, über meinen Umgang mit Zeit nachzudenken. Über meinen Rhythmus, meine Routinen – und darüber, was mich oft so sehr in Eile versetzt.
Vielleicht ist es klug, nicht alles aus der Zeit herauszuholen. Vielleicht ist es klug, auch einmal etwas liegenzulassen. Und sich selbst gleich mit.

Nicht nur das Ende sehen, sondern das ganze Leben

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Dieser Bibelvers klingt im ersten Moment schwer – als ginge es um das Ende. Dabei geht es um das Leben. Der Satz erinnert mich daran, dass meine Zeit begrenzt ist – und gerade deshalb bewusst gestaltet werden will. Nicht ständig produktiv, sondern manchmal auch: einfach still.

Das ist es, was die geschenkte Stunde der letzten Nacht für mich besonders macht:
Dass sie sich dazwischenlegt. Zwischen Plan und Pflicht. Zwischen Müdigkeit und Erwartung. Zwischen Tag und Nacht. Nicht als Lücke. Sondern als Raum.

Als kleine leise Stunde – einfach so. Was für ein Geschenk!