Turn, Turn, Turn von den Byrds - Verschiedene Zeiten und Phasen haben ihre Berechtigung
„Turn, Turn, Turn“ – „Alles dreht sich, alles kommt wieder.” Der Song wurde von der amerikanischen Folk- und Rockband Byrds bekannt gemacht. Aber geschrieben hat ihn Pete Seeger vor über 50 Jahren. In Internetforen tauchen euphorische Kommentare zu dem Song der Byrds auf: großartig, fabelhaft, ein unvergänglicher Klassiker, ein Fixstern am Musikhimmel.
Mir persönlich gefällt der Song auch. Eine gelungene Mischung aus Folk, Country, Rock und Jazz, dazu oft dreistimmiger Gesang. Eine Melodie, die ich gut mitsingen kann. Nicht wirklich traurig, aber auch nicht richtig fröhlich. Irgendwie passt das Lied zu meiner Stimmung jetzt am Ende des Jahres. Natürlich auch wegen des Textes: Alles hat seine Zeit, alles dreht sich, alles kommt wieder. Nach Weihnachten zwischen den Jahren, da komme ich oft mehr zum Nachdenken als sonst. Ich schaue mir die vielen Jahresrückblicke im Fernsehen oder in den Zeitungen an. Das regt mich dazu an, auch persönlich auf die letzten Monate zurückzuschauen. Schon wieder ist ein Jahr vorbei – ging ziemlich schnell, finde ich.
Vor einigen Tagen habe ich mit Freundinnen zusammen gesessen, wir haben alle von dem erzählt, was uns gerade am meisten beschäftigt. Die eine hat gerade ihr zweites Kind bekommen, die andere macht nach einer Kinderpause ein Fernstudium, die dritte hat jetzt Yoga für sich entdeckt. In der Runde wurde ich immer stiller. Ich hatte plötzlich das Gefühl: „Ich habe zu wenig aus meiner Zeit gemacht.“ Kein neues Hobby, kein Familienzuwachs, keine neue berufliche Herausforderung.
„Alles hat seine Zeit. Und alles hat seinen Zweck hier auf Erden. Alles dreht, dreht, dreht sich.“ Singen die Byrds. Das tröstet mich irgendwie. Vielleicht gibt es ja auch eine Zeit, wo Stillstand und wenig Veränderung genau richtig sind. Jede Phase hat ihre Berechtigung. „Alles kommt wieder.“ Ja, im alten Jahr habe ich Chancen verpasst und nicht jede Minute sinnvoll genutzt. Das muss man auch nicht. Und im nächsten Jahr gibt’s es neue Chancen.
To Everything (Turn, Turn, Turn)
There is a season (Turn, Turn, Turn)
And a time to every purpose, under Heaven
A time to be born, a time to die.
A time to plant, a time to reap.
A time to kill, a time to heal.
A time to laugh, a time to weep.
„Alles hat seine Zeit. Und alles hat seinen Zweck hier auf Erden. Alles dreht, dreht, dreht sich. Eine Zeit, geboren zu werden, eine Zeit zu sterben. Eine Zeit zum Pflanzen, eine Zeit zum Ernten. Zeit zum Lachen. Und Zeit zum Weinen.“ Singen die Byrds. Ein ewiger Kreislauf. Nach den dunklen und kalten Tagen kommen ein neuer Frühling und später ein neuer Sommer. Es macht Sinn, dass die Natur sich im Winter zurückzieht, um Kraft zu sammeln für etwas Neues. Wir werden geboren, wir werden älter, eines Tages sterben wir, neue Menschen werden geboren. Das gehört zum Leben dazu, sagt man. Und für manche ist das tröstlich.
Für mich drückt der Song noch etwas anderes aus. Denn die Zeiten des Lachens und Weinens, die Tiefen und Höhen, die sind für mich kein Zufall. „Alles hat seine Zeit.“ Der Text stammt fast wortwörtlich aus der Bibel und geht so weiter: „Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit.“ Für mich ist das ein wichtiger Satz. Ich höre ihn bei dem Lied mit. Die unterschiedlichen Momente, die ich erlebe, die hängen mit Gott zusammen. Auch die traurigen und schweren Zeiten. Das heißt nicht: Alles, was an Schrecklichem in meinem Leben und in der Welt passiert, ist Gottes Wille. Aber es gibt eben auch nichts, was mich von Gott entfernen kann. Durch alles, was ich erlebe, will Gott mir nah sein.
Das verändert meinen Rückblick auf das Jahr, das zu Ende geht. Was war wichtig für mich in den letzten Monaten? Zum Beispiel, die Zeit mit meiner Cousine. Sie wird gerade heftig gemobbt. Ihr Chef ist nie zufrieden mit ihr. Sonntags hat sie schon Angst, weil montags die Arbeitswoche wieder beginnt. Da geht so viel Lebensqualität verloren. Eine Zeit des Weinens und der Sorge. Jeden Sonntagabend kommt sie jetzt zum Tatort zu uns. Um sich abzulenken. Das schweißt zusammen. Oder die Zeiten mit einer Bekannten, die gerade schwer krank ist. Immer kommen neue Hiobsbotschaften. Jeden Abend zünde ich eine Kerze für sie an. Und wenn wir uns sehen, plätschert die Zeit nicht nur dahin, sondern hat Bedeutung. Die schwierige Zeit führt zu mehr Tiefgang und Nähe.
Das sind doch alles wichtige Zeiten, auch wenn sie traurig sind. Zeiten, mit Gott durchlebt. Und wann gab es schöne Zeiten im alten Jahr? Freunde haben mir erzählt, dass sie gute Ereignisse des Jahres auf eine bestimmte Art und Weise sammeln, weil sie sonst zu schnell vom Alltag verschluckt werden. Das kam, als meine Freunde einen schönen Ausflug gemacht haben. Noch im Morgengrauen hatten sie den Sonnenaufgang am Edersee erlebt. Das Rauschen des Wassers, Kaffee aus der Thermoskanne, eine kleine Wanderung. Sie haben sich dann einen Notizzettel genommen: „20. Mai, Picknick am Edersee, ein Tag voller Glück.“ Erst flog der Zettel eine Weile auf dem Schreibtisch herum. Dann haben sie ihn in eine Schale auf dem Fensterbrett gelegt und das Jahr über weitere Momente des Glücks gesammelt.
Was würde bei mir auf diesen Zetteln stehen? 16. Juni: Hochzeit von Philipp. Haben wunderbar getanzt. 7. Juli: Joggen an der Nidda – es riecht nach Sommer. 22. September: Abends Weltschmerz. Gerade dann ruft meine beste Freundin an und tröstet mich. 18. November: Treffen mit Freunden aus dem Studium in Heidelberg. Wir sprechen über Gott und die Welt. Es war wie früher.
Am Ende des Jahres ist die Schale mit Zetteln gefüllt. Mit schönen Momenten, die ich sonst viel zu schnell vergesse. Eine Schale voller Dankbarkeit. „Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit.“ Aber was ist mit den Momenten, die mir wie verlorene Zeit vorkommen?
To Everything (Turn, Turn, Turn)
There is a season (Turn, Turn, Turn)
And a time to every purpose, under Heaven.
„Alles hat seine Zeit. Und alles hat seinen Zweck hier auf Erden.“ Singen die Byrds. Wirklich alles? Gibt es nicht auch verlorene Zeit? Momente, die ich lieber aus meinem Kalender streichen würde? Verpasste Chancen, die ich nicht wiederbekomme? Ich habe mich zum Beispiel lange nicht mehr bei meiner Tante gemeldet, obwohl ich sie als Kind gern mochte. Und dann war sie vor zwei Jahren plötzlich sehr krank und ist ganz schnell gestorben. Ich kann ihr nichts mehr sagen, sie nicht mehr besuchen. Da habe ich unwiederbringlich etwas verpasst.
Oder viel undramatischer: die unschönen Momente, ich denen ich laut mit meiner kleinen Tochter schimpfe, weil sie zum zweiten Mal den Saftbecher über ihren Pulli geschüttet hat und wir eigentlich schon längst in der Krippe sein müssten. Solche Momente würde ich am liebsten vergessen oder ungeschehen machen.
Dietrich Bonhoeffer, Pfarrer und Widerstandskämpfer im dritten Reich, denkt darüber nach, was mit der Vergangenheit geschieht. Dabei bezieht er sich auch auf die Verse aus dem Buch des Predigers, die Pete Seeger für seinen Song genutzt hat. Er schreibt aus dem Gefängnis an seinen Freund: „’Alles hat seine Stunde: weinen und lachen,…herzen und ferne sein von Herzen, … zerreißen und zunähen…. Und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist.’ Dies letzte heißt doch wohl, dass Gott mit uns unsere Vergangenheit, die zu uns gehört, wieder aufsucht.“i Eine schöne und tröstliche Vorstellung von Bonhoeffer, finde ich. Ich stelle mir das richtig plastisch vor: Wie Gott mit mir auf dem Sofa sitzt und sich mit mir zusammen mein Leben anschaut wie in einem Film: alle diese unterschiedlichen Zeiten, die frohen Zeiten, die Zeiten, in denen ich müde und gestresst bin, die Krisen und auch die Zeiten, die ich als verloren oder unheil erlebe. Vielleicht hat Gott einen ganz anderen Blick auf diese Zeiten als ich. Vielleicht können diese „verlorenen“ Zeiten in Gottes Augen eine besondere Bedeutung haben. Eine dritte Dimension bekommen, die ich bisher nicht erahnt habe. Oder einfach nur heil werden. Gott schaut auf meine verpassten Chancen und unheilen Momente jedenfalls bestimmt gnädiger als ich, da bin ich mir sicher.
Und Dietrich Bonhoeffer schreibt noch mehr: „Alles hat seine Zeit und die Hauptsache ist, dass man mit Gott Schritt hält und ihm nicht immer schon einige Schritte vorauseilt, allerdings auch keinen Schritt hinter ihm zurückbleibt.“ Eine merkwürdige Formulierung: Mit Gott Schritt halten. Was kann das heißen? Ich übersetze Bonhoeffers Appell so für mich: „Lebe nicht zu sehr in der Vergangenheit. Mach keine zu großen Pläne für morgen. Wünsche dir auch kein anderes Leben herbei als das, was du jetzt hast. Nimm die Zeit, in der du gerade bist, richtig wahr und lebe sie intensiv. Sei gelassen. Es ist deine Zeit. Von Gott geschenkt.“
Irgendwie drücken die Byrds für mich diese Haltung in ihrem Song aus. „Turn, Turn, Turn.“ Das sind Worte, die Pete Seeger zum Bibeltext hinzugedichtet hat, und die dem Lied dann den Namen gegeben haben. Üblicherweise übersetzt man „Turn, Turn, Turn“ so: „Alles dreht sich, alles kehrt immer wieder.“ Es könnte aber auch heißen: „Wende dich um, schlag eine andere Richtung ein, verwandle dich.“ Dazu passt, dass Pete Seeger am Ende des Songs noch hinzufügt: „Es ist nie zu spät. Für die Zeit des Friedens.“ Und ich ergänze: Es ist nie zu spät auch für den Frieden mit sich selbst und der eigenen gelebten Zeit.