hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Auksutat, Ksenija

Eine Sendung von

Evangelische Pfarrerin, Stockstadt

Scheidungskinder

Scheidungskinder

„Uhh, uhh, oh, yeah, Momma please stop cryin’ ... never knowin’ what love could be, you’ll see.“

Zwölf Jahre ist sie alt und liegt nachts wach. „Ihr streitet euch übers Geld, über mich und meinen Bruder,“ erzählt das Mädchen in diesem Song. Sie hört, wie im Raum nebenan Glas zerspringt, sie hört wie ihre Mutter weint. Und sie fleht: „Bitte hör auf zu weinen, ich kann das nicht mit anhören, dein Schmerz tut mir so weh, Mama, es macht mich fertig.“ Der Streit ihrer Eltern scheint schon lange so zu gehen und ist aus Sicht der Tochter buchstäblich ein Ehekrieg. Die Eltern streiten, die Mutter weint, der Vater schreit rum. Und schließlich verlässt der Vater die Familie. Sie bilanziert voll Bitterkeit: „Es ist nicht leicht im Dritten Weltkrieg aufzuwachsen.“

Es sind ihre eigenen Kindheitserinnerungen, die Pink in ihrem Song „Family portrait“, also „Familienportrait“, wach werden lässt. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen, als sie zwölf Jahre alt war. Pink hat diesen Song als erwachsene Frau gemacht. Und vielleicht hängt bei ihr auch dieses Familienfoto von damals noch heute an der Wand. Ich glaube, in den meisten Familien gibt es so ein Bild: Vater, Mutter und die Kinder.

Wenn ich als Pfarrerin zu Besuch in ein Haus komme, werden mir oft die Familienportraits gezeigt und erklärt. Manche sind extra zu einem Fotografen gegangen, um sich ins rechte Licht rücken zu lassen. Und in den Erzählungen höre ich die Freude oder den Stolz darüber. Mir wird genau erklärt, wer wer ist, was aus wem geworden ist, wer inzwischen selbst eine eigene Familie gegründet hat. Solche Familienportraits stehen für die Geschichten dieser Familie, auch wenn sie die nicht zeigen. Man sieht nicht die Sehnsucht, die Hoffnungen und natürlich auch nicht die Brüche und Enttäuschungen.

Pink gibt dem Raum, indem sie sich anhand des Familienportraits an früher erinnert. Sie erklärt nicht, was die Eltern auseinander gebracht hat, wer welche Schuld daran trug. Mit ihrem Lied spürt sie ihren eigenen Gefühlen und Gedanken aus ihrer Perspektive als Kind in dieser Trennung nach. Ein Kind, das hilflos zusehen muss, wie die heile Familienwelt zerbricht. Damit rückt sie die Gefühle von Scheidungskindern in so einer akuten Trennungsphase der Eltern in den Mittelpunkt. Kinder wollen nicht, dass ihre Eltern sich trennen. Für sie ist eine Scheidung zunächst mal eine Tragödie. Kinder wünschen sich fast immer, dass ihre Eltern, die ihnen alles bedeuten, die sie als Vater und als Mutter brauchen, in ihrer Nähe und zusammen bleiben.

Pink singt von dieser Sehnsucht danach, die heile Welt von früher wieder herzustellen. Eine heile Welt wie auf einem Familienbild, nach dem dieser Song benannt ist: Family Portrait.

„In our family portrait,
we look pretty happy,
lets play pretend,
let’s act like it comes naturally.“


„Auf unserem Familienportrait, da sehen wir doch alle ziemlich glücklich aus“, singt sie, „kriegen wir das noch mal hin? Werden wir noch mal wieder eine Familie?“ Und sie schlägt vor: „Lasst uns das doch spielen, wir könnten uns das doch vorstellen, das wär’ sicher ganz einfach.“ Es ist ein kindlich naiver Lösungsvorschlag: Auf dem Familienfoto kann man genau sehen, wie das aussieht. Wenn jeder wieder seine Rolle spielt, könnte es dann nicht sein wie früher?

Als Erwachsener weiß man: Leider nein. Es gibt kein heiles Familienbild mehr, wenn die Beziehungen so zerrüttet sind, wenn man sich nur noch Vorwürfe macht  oder sich anschreit. Und die Stimme von Pink lässt es einen beim Zuhören des Songs spüren. Es geht nicht um vernünftige Lösungsstrategien, es geht um ihre Gefühle damals. Mich erinnern ihr Schmerz und die verzweifelte Hoffnung, die sie in ihre Vorschläge legt, an Psalmen der Bibel. Das sind jahrtausende alte Gebete. In vielen davon geht es um Angst und Leid.

„Das Herz in meinem Inneren ist verstört“, heißt es zum Beispiel in Psalm 55. „Ich bin getrieben von meiner Angst.“ Und der Beter beklagt auch, dass er durch jemand Vertrautes so verletzt wurde, und das schmerzt besonders.  „Hätte mich mein Feind verletzt, ich hätte es wohl ertragen“ heißt es, aber „du warst es, mein Gefährte, du, mein Freund, mein Vertrauter.“

Das Lied von Pink ist Ausdruck einer ganz schmerzlichen Erfahrung, wie diese uralten Gebete. Wer einen Schmerz erleidet, neigt erst mal schon aus Überlebenswillen dazu, diesem auszuweichen. Man denkt unwillkürlich: Ich muss stark sein! Man denkt über mögliche Hilfen oder Lösungen nach. Aber ich glaube es hilft, seine Verzweiflung, seine seelischen Kümmernisse zu allererst einmal wahrzunehmen, ihnen nachzuspüren, ihnen Raum zu geben und Ausdruck zu verleihen. So wie Pink in diesem Lied, dass sie in melancholischem c-moll singt und mit immer wieder rauer Stimme:

„I ran away today, ran from the noise ... I don’t want love to destroy me like it did my family.“

„Ich bin heute zum ersten Mal abgehauen, weg von dem Krach, einfach nur weg“, erzählt Pink von ihren Erfahrungen damals. Fast so wie der Beter im Psalm, der sich wünscht: „Oh hätte ich Flügel, ich flöge weg und käme zur Ruhe.“ (Psalm 55,7) Wer so spricht, hat ein Gegenüber, das wie ein Gesprächspartner zuhört. So wie Pink die Hörer mit ihrer kindlichen Hilflosigkeit konfrontiert, so macht  es der Beter mit Gott. Man drückt aus, was schmerzt, auf wen man wütend ist, was man am liebsten tun würde. Wer so singt, erwartet von seinen Zuhörern auch keine Ratschläge oder Tipps - sondern Verständnis. Und wer so betet, der wünscht sich von Gott Mitgefühl, keine Erklärungen. Wer sich so öffnet, kann klagen, jammern und flehen: „Papa, bitte geh nicht“:

„Daddy don’t leave, ... don’t leave us here alone.“

„Papa, bitte geh nicht, bitte geh nicht, Bitte kehr um, bitte, denk daran, du nahmst meinen leuchtenden Stern in der Nacht als du gingst, Papa, bitte geh nicht, lass uns hier nicht allein.“

Sie spricht es, wenn auch jammernd und stammelnd, aus: Der Vater ist weg. Einen leuchtenden Stern in ihrem Leben hat er mitgenommen, dass heißt: Etwas fehlt. Es wird nicht mehr so sein können, wie damals auf dem heilen Bild ihres Familienportraits.

Man denkt vielleicht: „Was soll das nützen? Das Kind wird die Eltern doch nicht mehr zusammen bringen!“ Aber wer denkt, dass Tränen oder Gebete nichts bewirken, der irrt. Sicher, sie ändern nicht die Wirklichkeit. Aber sie helfen einem, durch das Chaos der Gefühle hindurch zu kommen. Wenn ich Gott meinen Kummer klage, kommt mein Schmerz nach außen. Er kann mich nicht mehr innerlich zerfressen.

Pink erinnert sich in diesem Song an einen Schmerz, der zu ihrem Leben gehört. Aber zugleich auch an die Erfahrung: Ich bin durch eine schwere Zeit hindurch gegangen, es war wahnsinnig schwer für mich, aber nun bin ich an einem anderen Punkt in meinem Leben, von dem aus ich zurück schauen kann. Das auszusprechen ist ein wichtiger Schritt. Man tastet sich so an die veränderte Wirklichkeit heran. Und nur so kann man lernen, sich in seiner neuen Wirklichkeit zurechtzufinden. Sich zu öffnen, für das, was in Zukunft vor einem liegt.

Mit dem Lied „Family Portrait“ bringt Pink den Erwachsenen heute ihre Sicht als Kind damals nahe. Sie fühlte sich verstört, hilflos und traurig. Vielleicht hätte es ihr damals gut getan, das jemandem so anzuvertrauen. Ich glaube, dass man das auch Gott so anvertrauen kann. Wer mit Gott spricht, wer Gott seinen Kummer anvertraut, dem tut das gut. Und wer sich dem Schmerz stellt, den schmerzlichen Erinnerungen oder einem akuten Leid, kann sich öffnen für Neuanfänge. Wer sich seinen Gefühlen stellt, wer klagt wie die Beter der alttestamentlichen Psalmen, tut den ersten Schritt hin zu neuem Lebensmut.