„Draußen bleiben – oder rein kommen?“
Ich schrecke aus dem Schlaf hoch, bin mit einem Mal hellwach. Ein Sonnenstrahl fällt gleißend durch den Spalt zwischen den zwei schweren, lichtundurchlässigen Vorhängen. Hat es eben nicht geklopft? Jetzt sehe ich, wie die Türklinke heruntergedrückt wird, ein Putzwagen rumpelt über die Schwelle – und plötzlich steht ein Zimmermädchen vor mir. Die junge Frau zuckt zusammen: „Oh, entschuldigen Sie bitte! Ich wusste nicht, dass noch jemand im Zimmer ist!“ – Auf der Stelle macht sie kehrt und bugsiert ihren Wagen so schnell wie möglich zurück auf den Flur. „Schon ok,“ kann ich gerade noch hinterher rufen, bevor die Zimmertür bereits wieder ins Schloss gefallen ist. Innen an der Türklinke baumelt ein längliches Pappschild, das ich erst jetzt bemerke: „Do not disturb! Bitte nicht stören!“ – Hätte ich gestern Abend daran gedacht, dieses Schild außen über die Klinke meiner Zimmertür zu hängen, hätte ich wohl ausschlafen können.
Inzwischen ziert dieses Schild die Tür zum Kinderzimmer meines Patensohns. Ja, ich geb’s zu, es muss beim Packen wohl irgendwie in meine Reisetasche gefallen sein. Aber, keine Sorge, Handtücher und Bademantel habe ich im Hotel gelassen... Mein Patensohn ist 12 Jahre alt – und er hat (im Gegensatz zu mir) sofort die Vorzüge dieses Schildes für sich erkannt und genutzt. Nach der Schule, wenn erstmal laut Musik gehört und gechillt werden muss, zeigt es jetzt allen Erziehungsberechtigten unmissverständlich an, was Sache ist: „Bitte nicht stören!“ Und auch die andere Seite des Schildes hat er wohl schon einmal ausprobiert, allerdings mit weniger durchschlagendem Erfolg: Als nach Wochen irgendwann selbst wichtigste Schulsachen unter Bergen von altem Spielzeug und Klamotten nicht mehr auffindbar waren, prangte plötzlich „Room service, please! Bitte Zimmerservice!“ an der Tür. Aufräumen musste er im Hotel Mama dann am Ende aber doch noch selbst.
Heute, an diesem Sonntagmorgen des 6. Mai, hängt ein solches Pappschild sogar an der Klinke unserer altehrwürdigen Kirchentür. Es sieht ganz so aus, wie das Schild aus dem Hotel – bloß der Textaufdruck ist etwas anders gestaltet und formuliert: „Draußen bleiben!“ steht in fetten, roten Buchstaben auf der einen Seite, die andere zeigt hingegen grüne Lettern: „Rein kommen!“ Genau diese Seite begrüßt jetzt auch alle Kirchgänger. Es werden ein paar mehr sein, als sonst, denn heute feiern wir Konfirmation. Später im Gottesdienst sollen dann auch alle Konfirmandinnen und Konfirmanden ein solches Türschild erhalten, vielleicht leistet es Ihnen ja ähnlich gute Dienste wie meinem Patensohn.
MUSIK
„Rein kommen!“ steht auf dem Türschild, das heute ungewohnterweise an der Klinke unserer Kirchentür baumelt. Ich werde gleich vorsichtshalber noch einmal nachschauen, ob es auch wirklich kein Scherzkeks umgedreht hat. Die Botschaft auf der Rückseite wäre für eine Konfirmation ja eher kontraproduktiv, sie wissen schon: „Draußen bleiben!“
Ich bin gespannt, wie nachher wohl meine Konfis aussehen werden: Statt T-Shirt und Jeans wahrscheinlich Schlips und Kragen oder Cocktailkleidchen, statt Turn- auf einmal Lackschuhe oder Pumps. Die gestern noch halbgaren Teens werden heute morgen fast schon erwachsen wirken, wenn sie über die Schwelle der Kirchentür treten. Apropos Tür und Schwelle: Eine Konfirmation bezeichnet man tatsächlich als ein sogenanntes „Schwellenritual“. Früher markierte diese christliche Feier nämlich auch den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben. Für viele endete mit der Konfirmation die Schulzeit – und sie begannen danach eine Ausbildung oder fingen an zu arbeiten. Für die Vierzehnjährigen von heute ist die Schwelle etwas niedriger, sie müssen ja trotz Konfirmation weiter zur Schule gehen. Aber ein kleines bisschen erwachsener werden die Jugendlichen auch heute noch, wenn sie über diese Konfirmations-Türschwelle treten, jedenfalls aus kirchlicher Sicht: Sie haben nämlich im vergangenen Jahr miteinander gelernt, was die Kirche und den christlichen Glauben ausmachen. Und sie sagen nun selbstbestimmt „Ja“ zu dem, was Ihnen einst als Baby mit der Taufe versprochen worden ist: Ein Leben unter dem liebevollen Segen Gottes. Außerdem dürfen die Konfirmierten dann auch den Kirchenvorstand mitwählen und können ab sofort ein Patenamt übernehmen.
Stolz und selbstbewusst werden die Jugendlichen heute durch die Kirchentür treten. Sie ist ihnen vertraut geworden, auch ohne Türschild wissen sie genau: Hier darf ich „rein kommen“. Vor ziemlich genau einem Jahr sah das anders aus. Ich weiß noch, wie all diese Jungs und Mädels ziemlich aufgeregt und unsicher vor der Tür zum ersten Konfi-Unterricht standen. Für manche war es vielleicht eine Überwindung, da hindurch zu gehen. Auch ich als Pfarrer habe mich bei unserer ersten Begegnung gefragt: Wie komm’ ich wohl an diese Jugendlichen heran? Renne ich bei denen jetzt offene Türen ein – oder machen die dicht? Lassen die sich auf mich und meinen Unterricht ein, darf ich also „rein kommen“– oder heißt es womöglich einfach „draußen bleiben“?
MUSIK
„Draußen bleiben“ oder „rein kommen“. Diese typischen Türklinken-Schilder tragen eindeutige Botschaften, da bleiben keine Fragen offen. Jenseits von Hotelfluren aber ist es meistens etwas komplizierter. Erst recht, wenn es um zwischenmenschliche Begegnungen geht. Zwischen Konfis und Pfarrer, unter Kollegen, in der Nachbarschaft oder der Familie. Wir tragen solche Schilder ja nicht um den Hals. Da muss man schon selbst herausfinden, ob der oder die Andere gerade eher offen oder verschlossen ist. Blicken wir uns lächelnd an – oder schaut da einer mürrisch beiseite? Begegnet mir jemand mit echtem Interesse – oder tippt er lieber nebenbei noch schnell eine SMS? Wer oder was darf „rein kommen“ in meine Welt – oder eben nicht? – Das ist eine spannende Frage – besonders für Jugendliche. Die Antwort darauf ist nicht immer leicht zu finden, aber sie gehört wohl zum Erwachsenwerden dazu.
Über die Türen ihrer Kinder- und Jugendzimmer mögen meine Konfirmanden selbst die Schlüsselgewalt haben – aber sie werden auch immer wieder vor Türen stehen, bei denen andere entscheiden, ob sie durchkommen oder nicht. Es tut weh, wenn das passiert, wenn manche auf ein grünes „rein kommen“-Schild blicken – und man selbst bekommt bloß ein rotes „draußen bleiben“ an die Türklinke gehängt. Ich hoffe, dass die Jugendlichen vor solchen Türen niemals alleine stehen müssen, sondern dann liebe Menschen an ihrer Seite haben. Darüber möchte ich im Gottesdienst sprechen. Und dann werde ich den Konfirmanden auch verraten, woher eigentlich all diese „rein kommen“-„draußen bleiben“-Türschilder stammen, die nachher jeder als Erinnerung mit nach Hause nehmen darf. Nein, diesmal habe ich sie nicht aus einem Hotel geklaut, sie sind in Wahrheit ein Geschenk von der sogenannten Ausbildungshilfe, einem kleinen Hilfswerk unserer Landeskirche. Mit den Konfirmationskollekten und anderen Spenden nämlich sorgt die Ausbildungshilfe dafür, dass Jugendliche in Entwicklungsländern die Möglichkeit bekommen, eine gute Ausbildung oder ein Studium zu machen. Die Türschilder sind dafür ein passendes Symbol: Wer darf „rein kommen“? Wer muss „draußen bleiben“?
Oft entscheidet Bildung über die Antwort auf diese Lebensfrage. Indem die Konfirmanden gleich beim Gottesdienst etwas von ihrem Geschenkereichtum abgeben, werden sie selbst zu „Türöffnern“ für andere, damit die nicht länger „draußen bleiben“ müssen – nur weil ihre Eltern z.B. das Schulgeld nicht bezahlen können.
Es gibt übrigens eine Stelle in der Bibel, da vergleicht sich Jesus selbst mit einer Tür (Joh. 10, 9): „Ich bin die Tür!“ sagt er, ich bin die Tür, wenn jemand durch mich hineingeht, wird er gerettet werden“. Ein enormes Versprechen ist das – und es gilt den Menschen in Indien oder Afrika genauso wie uns hier in Deutschland!