hr1 SONNTAGSGEDANKEN
hr1
Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

Der Traum vom großen Wir

Der Traum vom großen Wir

Der Heilige Geist macht’s möglich: Der Traum vom großen Wir unter den Menschen wird wahr. Wie, das erzählt die Bibel in der Pfingstgeschichte. Da kommt auf der Straße eine große Menschenmenge zusammen – wirklich zusammen. Denn die Menschen verstehen einander plötzlich, obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen. Sie kommen aus verschiedenen Kulturen, und sicher stammen sie auch aus verschiedenen Bevölkerungsschichten. Aber sie verstehen einander. Wie kommt das? Der Geist Gottes, der Heilige Geist erfüllt sie. Er verbindet sie für diesen Moment zu einem Ganzen.

Am intensivsten erleben es die Jünger von Jesus Christus. Sie sind täglich einträchtig beieinander und teilen miteinander ihr Leben, so erzählt es die Apostelgeschichte in der Bibel. Die Jünger leben, wovon viele Menschen träumen, den Traum vom großen Wir. Diesem Traum hat die kanadische Rockgruppe Nickelback ein schönes Lied gewidmet. Sein Titel: „When we stand together“.

„Wir müssen zusammenhalten. Dort gibt keiner nach. Hand in Hand für immer - das ist, wenn wir alle gewinnen. Dann werden wir alle gewinnen.“

„Wir müssen zusammen halten.“ Das wünschen sich viele. Das sagt der Trainer zu seiner Fußballmannschaft und beschwört den Teamgeist. Das ruft der Gewerkschafter den Kundgebungsteilnehmern zu und schwenkt das Banner der Solidarität. „Wir müssen zusammen halten.“ Das schärft die Abteilungsleiterin ihren Mitarbeitern ein, um den gewünschten Großauftrag zu bekommen. Das singt auch der Kegelclub in beseelter Runde. Vielleicht singt er es sogar mit dem Lied von Nickelback, denn dazu lädt es ein mit seinem kernigen Rhythmus, seiner eingängigen Melodie und der klaren Botschaft seines Refrains.

Doch dieser Traum vom großen Wir wird sofort gestört, wenn man fragt, wer dieses Wir eigentlich ist. Wir – so lange das eine Fußballmannschaft ist oder die Belegschaft eines Unternehmens oder die Mitglieder einer Gewerkschaft – da mag das noch klar sein. Man hat gemeinsame Ziele. Aber diese Ziele konkurrieren mit den Zielen anderer. Das Fußballspiel kann nur eine der beiden Mannschaften gewinnen. Die andere hat das Nachsehen.

Konkurrenz, der Gegensatz der Interessen, das gehört nun mal untrennbar zum Leben dazu. Das beginnt schon in der Familie bei der Frage, welches Fernsehprogramm im Wohnzimmer läuft. Das findet auch in der Bäckerei statt, wenn es darum geht, wer als nächstes dran kommt. Wer in all diesen kleinen Alltagskonflikten nicht auch seine Interessen ausdrückt, wird untergehen. Und im großen Weltgeschehen ist das nicht anders.

Andererseits gilt: Wer nur seinen eigenen Vorteil im Blick hat, wird auch nicht weit kommen. Vieles im Leben ist nur möglich, wenn man die eigenen Interessen mit denen anderer abwägt. Menschen brauchen einander eben auch. Das Ich und das Wir müssen miteinander in Einklang gebracht werden.

Die Gruppe Nickelback macht das Wir stark: „Wir müssen zusammen stehen. Dann werden wir alle gewinnen“. Für die Musiker ist das keine naive Schwärmerei, sondern ein konkretes persönliches und weltpolitisches Programm. Das machen sie in den Strophen ihres Liedes deutlich.

"Noch einer, der von einem Gebet abhängig ist. Und wir alle schauen weg. Menschen heucheln überall. Es ist doch nur ein weiterer Tag. Dort fliegen Kugeln durch die Luft und sie machen immer weiter damit. Wir sehen es dort drüben geschehen. Und schalten dann einfach aus. Wir müssen zusammen halten."

Dieses eingängige Lied erweist sich bei genauerem Hinhören als scharfe Kritik. Beklagt wird das bequeme Weggucken, das sich viele gönnen, um in Ruhe leben zu können. Die Nickelback-Musiker haben ja Recht: An vielen Stellen auf der Welt fliegen Gewehrkugeln, es herrscht Krieg und Menschen werden Opfer von Gewalt. Viele, die davon nicht direkt betroffen sind, gucken sich das in den Nachrichten zwar an, aber dann schalten sie aus und leben ihr Leben ungestört weiter.

So ähnlich passiert das auch in Hessen, zum Beispiel wenn es um den Lärm rund um den Flughafen geht. Wer in der Lärmschneise lebt, ist verzweifelt. Viele andere schauen sich das an und sind froh, dass sie woanders wohnen. Die Gruppe Nickelback legt mit ihrem Lied den Finger noch in eine andere Wunde:

"Sie erzählen uns, alles sei in Ordnung. Und wir stimmen einfach zu. Wie können wir nachts einschlafen, wenn etwas so eindeutig falsch ist? Wenn wir eine hungernde Welt ernähren könnten, mit dem, was wir weg werfen. Aber alles, was wir ihnen servieren, sind leere Worte, die immer gleich schmecken. Wir müssen zusammen halten."

Es wäre genug essen für alle da, sagen die Entwicklungshelfer der evangelischen Hilfsorganisation Brot für die Welt. Wenn nur die Nahrungsmittel weltweit nach Bedarf verteilt würden. Das werden sie aber nicht. Denn dabei geht es nicht in erster Linie darum, möglichst alle Menschen zu ernähren. Sondern es geht darum, Geld zu verdienen. Nahrungsmittel sind ein Markt. Und auf dem verkauft man lieber an die Kunden, die dafür viel bezahlen können. Deshalb landen die Nahrungsmittel eher dort, wo das Geld sitzt, und nicht dort, wo die Hungernden sitzen. Hilfsprogramme und Spenden lindern die Not etwas. Aber sie ändern nichts daran, dass die Nahrungsmittel auf der Welt ungerecht verteilt werden. Schlechte Chancen für das große Wir.

Wollen wir wirklich volle Teller für die Reichen und leere Worte für die Armen, wie es Nickelback beklagen? Manche sagen NEIN und treten für mehr Gerechtigkeit ein, auch wenn es sie selbst etwas von ihrem Wohlstand kostet. Warum? Viele Christen tun das aus der Überzeugung ihres Glaubens heraus, weil sie sich mit den Menschen in anderen, in ärmeren Ländern verbunden fühlen. Sie sehen sich als Teil des großen Wir, das der Heilige Geist um sie herum spannt. In diesem Wir spüren alle, wenn einige leiden. Und alle spüren es wohltuend, wenn es möglichst vielen gut geht.

Was kann die Welt in diesem Sinne besser machen? Darüber singt die Gruppe Nickelback in der letzten Strophe ihres Liedes.

"Das Richtige, das uns leiten kann, ist genau hier in uns. Wenn uns dieses Licht weiter führt, kann uns niemand trennen. Aber wie ein Herzschlag geht auch der Trommelschlag weiter. Und der Trommelschlag geht weiter."

Was könnte die Welt besser machen? Nickelback sind der Meinung, dass die meisten Menschen eigentlich wissen, was zu tun wäre. Sie tragen es in sich: Sie hören es als Stimme ihres Gewissens. Oder sie kommen durch Nachdenken drauf -  als Licht der Erkenntnis. Oder sie spüren es als ethischen Impuls ihres Glaubens. Dem zu folgen, dazu ermutigt die Gruppe Nickelback.

Dieser Gedanke durchzieht auch die Bibel: Wenn alle nicht nur das Ich leben, sondern auch das Wir, dann geht es allen besser. Das gilt auch für die, die dabei etwas abgeben, denn sie bekommen etwas zurück. Es fühlt sich nicht gut an, in einer Welt zu leben, in der man tagtäglich mühsam die Not anderer vergessen muss. Wenn es den Ärmeren gut geht, geht es auch den Reichen besser. Es gibt ein großes Wir, das drängt danach. Und es gibt eine begrenzte Welt, die für alle reichen muss.

Christen rechnen mit dem Heiligen Geist. Er verbindet die Menschen miteinander zu einem großen Wir. Damit ist ein starkes Ideal in der Welt – das aber an der Wirklichkeit oft scheitert. Schon im ganz Kleinen, etwa in den Familien, gelingt es längst nicht immer, wenigstens ein kleines Wir zu leben, geschweige denn ein großes.

Das ist auch unter Christen nicht anders. Oft wurde und wird dieser Heilige Geist an den Rand gedrängt. Aber dennoch nie vergessen! Das geht auch gar nicht, denn der Traum vom großen Wir steht ganz am Anfang des Christentums. Die Geschichte vom Pfingstfest erzählt ihn. Sie erzählt, wie es den ersten Jüngern von Jesus offenbar gelungen ist, diesen Traum zu leben. Sie waren so beseelt, so erfüllt vom Heiligen Geist, dass alles andere zurücktrat. Gerade weil die Welt meistens anders tickt, hält das Pfingstfest den Traum darüber wach, wohin der Heilige Geist Gottes die Welt bringen will.