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Zels, Thomas

Eine Sendung von

Pastor, Freie evangelische Gemeinden Marburg

495. Reformationstag 2012

495. Reformationstag 2012

Erst dachten die in Rom, er sei bloß ein kleiner, störrischer, deutscher Mönch. Intelligent, aber verbohrt. Doch dann entpuppte sich Martin Luther als der meistunterschätzte Senkrechtstarter seiner Zeit. Er predigte so überzeugend, dass eine Massenbewegung entstand, die Reformation. Die Kirche veränderte sich dadurch tiefgreifend. Weltweit. Und die Gesellschaft gleich mit. Das war vor fünfhundert Jahren. Bis heute ist dieser leidenschaftliche Klartextprediger einer der bekanntesten Deutschen.

Alles, was sich evangelisch nennt, hat mit ihm zu tun. Sogar die, denen die Kirche egal ist, haben mit Luther zu tun. Zum Beispiel, weil sie hochdeutsch sprechen. Luthers deutsche Übersetzung der Bibel ist bis heute ein Bestseller. Auch seine anderen Schriften verbreiteten sich rasend, vor allem durch Gutenbergs neu erfundene Buchdrucktechnik. So hat Luther wesentlich zur Vereinheitlichung des Hochdeutschen beigetragen.

In drei Tagen, am 31.Oktober, ist wieder Reformationstag. Er erinnert an diese vielleicht größte kirchliche Erneuerung, und an den, der sie ausgelöst hat. Am 10. November 1483 wurde er geboren, in Eisleben, Sachsen-Anhalt. Seine Familie hieß eigentlich Luder, und war stolz auf einen adeligen Vorfahren namens Ritter Wigand von Lüder. Tags drauf, am Martinstag, war seine Taufe. Deshalb hieß er dann auch so. Martin war ein schüchterner Junge, zunächst jedenfalls. Aber begabt. Da sein Vater es im Kupferbergbau zu was gebracht hatte, konnte Martin auf unterschiedliche Schulen gehen, trotz seiner neun Geschwister. Mit siebzehn schickten ihn seine Eltern zum Jurastudium nach Erfurt, aus ihm sollte mal was werden. Fünf Jahre hielt er durch. Dann begann der Ärger. Der Zweiundzwanzigjährige wollte plötzlich Mönch werden und Theologie studieren! Er redete von einem Blitzeinschlag, dem er mit Gottes Hilfe knapp entkommen wäre.

Es war nichts zu machen. Er trat in den Augustiner-Bettel-Orden ein, wo ihn nur Arbeit erwartete. Annehmlichkeiten und Privatleben gab es dort nicht. Aber Luther wollte das so. Es half ihm, Gott zu suchen und die Bibel zu studieren. Innerhalb kurzer Zeit las er sie in ihren Grundsprachen Hebräisch und Griechisch. Latein konnte er ja schon aus der Schule. Nach drei Jahren Klosterleben wurde er Dozent an der Uni Wittenberg, machte vier Jahre später seinen Doktor, und wurde anschließend dort Theologie-Professor. Da war er gerade mal neunundzwanzig Jahre alt. Ein Senkrechtstarter.

Aber parallel zu Luthers beruflichem Aufstieg, ging es persönlich mit ihm bergab. Trotz des beruflichen Erfolgs fiel Martin Luther in eine Art Depression. Er litt unter Gedanken, die einem heute gar nicht so dramatisch vorkommen. Zum Beispiel, dass er nach christlichen Maßstäben nicht perfekt war. Trotz aller Mühe, die er sich gab, war es zum Verzweifeln. Luther dachte schlecht von sich. „Ich alter, stinkender Madensack!“, sagte er. Gott würde jeden fehlerhaften Menschen ablehnen, meinte er, und jeden Sünder bestrafen. Das entsprach der kirchlichen Lehrmeinung und kam ihm auch logisch vor. Gott war rein und heilig, die Menschen waren schlecht und sündig. Ihr Ende war die Hölle. Es sei denn, sie hielten alle Gebote Gottes.

Luther versuchte alles, um ein guter Christ zu werden, er verbot sich sogar jeden schlechten Gedanken. Er quälte sich. Aber er schafft es nicht. Also glaubte er schließlich, dass Gott ihn in die Hölle schicken würde, dass er verdammt sei. Heimlich fragte er sich aber auch, warum Gott eigentlich all die Gebote erlassen hatte, obwohl sie doch praktisch nicht zu erfüllen waren. War Gott vielleicht ein Tyrann? Musste man einen solchen Gott nicht eher hassen? Wegen solcher Ge-danken rannte er dann wieder von Beichte zu Beichte. Aber niemand konnte ihm helfen. Am Ende war er verzweifelt und erschöpft. Alles stellte er in Frage. Die ganze Kirche. Auch seinen angelernten Glauben. Der Theologieprofessor verstand die Bibel nicht mehr.

Und dann passierte es beim Studium der Briefe von Paulus. Luther war inzwischen 33 Jahre alt. Auf einmal las er las er diese Bibeltexte, wie er sie noch nie gelesen hatte.  Da stand doch tatsächlich, dass Gott die menschliche Unfähigkeit nicht verurteilte! Sondern dass er sie verstand! Und vor allem, dass er sich in Jesus schon längst mit allen Menschen ausgesöhnt hatte! Seit Jesu Tod am Kreuz galt eine General-Amnestie! Jeder durfte jetzt zu Gott kommen. Fehler und Schuld waren gar nicht Gottes größtes Problem!

Martin war vom Donner gerührt: Für Gott waren die Dinge schon längst in Ordnung! Gott war gar nicht sein Feind. Und der Himmel war auch keine Belohnung für die Perfekten, sondern Gottes Geschenk an alle, die sich begnadigen ließen. Luther schrieb später, dass diese Erkenntnis wie eine Neugeburt für ihn war, als wäre er ins Paradies eingetreten.

Ungefähr da änderte er seinen Namen Luder in "Luther" um. Das klingt so ähnlich wie das griechische Wort eleutheros, das heißt "Befreiter". Er war frei geworden von einem vernebelten Gottesbild. Jetzt verstand er auch, warum die Botschaft der Bibel "Evangelium" hieß, also Gute Nachricht. Warum, um Gottes Willen, wurde das nicht gepredigt? Die Menschen um ihn her mussten ebenfalls von diesem Nebel befreit werden! Wozu all die Selbstquälerei, wenn Gott doch längst schon vergeben hatte? Wozu sich von den Sünden freikaufen mit kirchlichen Ablassbriefen, wenn Gott längst mit allen versöhnt war? Und warum sollten eigentlich nur die Priester, Päpste und Studierten das alles in der Bibel lesen können? Wieso gab es dieses Buch nicht in einem Deutsch, das alle verstanden?

Luther redete und predigte leidenschaftlich. Aber viele Kollegen runzelten nur die Stirn, und unter der Kanzel saßen oft viel zu wenig Leute. Da kam der schlaue Mönch kurz vor Allerheiligen auf eine Idee.

Zu Allerheiligen am 1. November waren die Kirchen immer rappelvoll, so ähnlich wie bei uns heute am Heiligabend. Da wurden sämtliche Heilige verehrt und angerufen. Sie sollten bei Gott für die armen Sünder bitten. Bei solch einer geballten Heiligenanrufung wollte natürlich keiner fehlen. Luther wusste, dass die Gläubigen in Wittenberg am 1. November alle durch sein Kirchenportal drängen würden. Da kam ihm eine Idee. Er verfasste fünfundneunzig Thesen, alles Schlussfolgerungen aus seiner befreienden Erkenntnis, und Vorschläge, wie die Kirche darauf reagieren müsste. Die hämmerte er 1517 am Abend vor Allerheiligen für alle sichtbar an die Schlosskirchentür von Wittenberg, so sagt es die Legende. Gleichzeitig hatte er sein Thesenpapier auch dem Erzbischof von Magdeburg geschickt und etlichen Freunden. So lösten Luthers Reform-Thesen die wohl heftigste Bewegung der Kirchengeschichte aus. Und deshalb feiern wir die Reformation seit fast vierhundert Jahren immer am 31.Oktober.

Seit Luther ist eine lange Zeit vergangen. Ganze Epochen sind inzwischen gekommen und wieder gegangen. Sind die befreienden Erkenntnisse von Luther für uns überhaupt noch aktuell? Fünfhundert Jahre nach Luther kann man wieder einen dicken Nebel ausmachen. Tausend multireligiöse Meinungen stiften in unserer Zeit Verwirrung. Und selbst die christlichen Kirchen zeigen sich längst nicht immer einig. Auf diesem Hintergrund wirken Luthers Einsichten heute auch wieder sehr befreiend.

Die Bibel spielt dabei eine wesentliche Rolle, wie bei Luther. Sie bringt mir bei, selber zu glauben, statt auf große Gurus zu warten. Luther erkannte zum Beispiel, dass der persönliche Glaube an Jesus Christus wichtiger ist, als mit einer bestimmten Kirche in allen Punkten überein zu stimmen. Ihm vertrauen kann mir keiner abnehmen. Diesen Glauben kann mir aber auch keiner wegnehmen. Das kann einen sicherer machen, mitten in unberechenbaren Zeiten.

Luther erkannte, dass Gott jedem Menschen nahe ist, auch wenn kein Priester in der Nähe ist und kein Ritual durchgeführt wird. Diese Nähe kann ich jederzeit nutzen. Das gibt mir Hoffnung, wenn andere abwinken.

Luther war überzeugt, dass Gott ein glühender Backofen voller Liebe ist. Er macht uns nicht die Hölle heiß. Heute fühlen sich viele so unwichtig und nutzlos. Sie sehen sich unter Druck gesetzt. Weil sie nicht jung, oder gut aussehend oder erfolgreich sind. Gott liebt aber nicht die Leistung, sondern den Menschen. Das kann einen glücklich machen.

Die Einsichten Martin Luthers haben heute immer noch die Kraft, Menschen frei zu machen. Denn sie helfen zu einem klaren Bild von Gott, sie machen mündig und mutig. Deshalb singe ich auch am vierhundertfünfundneunzigsten Reformationstag 2012 wieder Luthers bekanntes Lied "Ein` feste Burg ist unser Gott".