hr1 SONNTAGSGEDANKEN
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Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

Ohne Gott – Befreit und allein gelassen zugleich

Ohne Gott – Befreit und allein gelassen zugleich

Von etwas ganz Alltäglichem handelt ein Lied des kanadischen Popsängers Bryan Adams: von einer Autofahrt. Allerdings wird sie zur Gedankenreise zu einem ungewöhnlichen Ziel – das Paradies. Das Lied heißt: „This side of paradise“

„Ich sitze auf dem Rücksitz, neun Jahre alt. Ich starre aus dem Fenster und zähle die Grenzpfosten an der Autobahn. Ich werde nachdenklich, alles wirkt so irreal. Ich fliege durch das Universum in einem 69er Oldsmobile. Und ich will genau das wissen, was sie mir nicht erzählen. Ich will keine Lügen mehr hören. Ich will einfach nur etwas, an das ich wirklich glauben kann.“

Was Bryan Adams hier besingt, das hat wohl jeder auf eigene Weise selbst durchlebt. Neunjährige beginnen hinter die Worte der Erwachsenen zu blicken. Sie glauben nicht mehr alles. Und wenn sie einen Kinderglauben an Gott hatten, dann bekommt er jetzt Risse. Es geht ihnen wie damals dem Jünger Thomas in den Tagen nach Ostern. Die Bibel erzählt davon. Der Jünger Thomas kann einfach nicht glauben, dass Jesus vom Tod auferstanden sein soll. Erst tot, gestorben am Kreuz und dann auferstanden, wirklich auferstanden? Unmöglich! Dafür will der Jünger Thomas Beweise. Er will es sehen und anfassen, sonst glaubt er´s nicht.

Genau diese Skepsis arbeitet auch in dem neunjährigen Bryan Adams. Die Gefühle dazu legt er in sein Lied hinein: Den Eifer, die aufklärerische Energie und den Zorn.

Es gibt keine magischen Kristallkugeln. Es gibt keinen Nikolaus. Keine Märchen und keine goldenen Straßen. Es gibt auch nicht die Auserwählten, die am Ende der Zeit zu Gott kommen werden, wie es die Bibel berichtet. Es gibt einfach nur dich und mich. Und das ist alles, was wir haben. Das ist alles, an dem wir uns festhalten können.“

So verabschiedet sich Bryan Adams von Mythen und allen Hoffnungen auf irgendwelche Kräfte jenseits des Verstandes. Er befreit sich davon. Damit ist eigentlich alles klar. Es gibt keinen Gott. Es gibt kein Paradies. Es gibt nur dieses Leben, das mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Und darin sind wir unseres Glückes Schmied. Mehr ist nicht. Daraus kann man ja auch schon eine Menge machen. Bryan Adams tut das. Er hat seine Begabungen gefunden. Als Musiker und Fotograf ist er sehr erfolgreich. Er ist ein besonders nachdenklicher Mensch, er sucht nach dem richtigen Leben. Deshalb lebt er als strenger Vegetarier. Viele Konzertgagen hat er für Naturschutzprojekte gespendet. Eine eigene Stiftung hat er gegründet, sie setzt sich für die Befreiung von politischen Gefangenen ein und will Hunger und Not lindern. Bryan Adams könnte mit sich und seinem Leben zufrieden sein.

Aber das Lied zeigt etwas anderes. Die Autofahrt des Neunjährigen nimmt eine überraschende Wendung. Sie führt dann doch wieder zum Paradies, dem großen Sehnsuchtsort in der Bibel. Der Text des Refrains lautet: „Ich will einfach etwas, an das ich glauben kann. Es ist eine sehr einsame Straße, auf der ich unterwegs bin hier auf dieser Seite des Paradieses.“

Bryan Adams besingt in dieser Ballade ein melancholisches Lebensgefühl. Er fühlt sich einsam, alleine gelassen – auf seiner Seite des Paradieses. Offenbar gibt es noch eine andere Seite, die fühlt sich anders an. Wenn es das Paradies ist, von dem die Bibel erzählt, dann stimmt das auch. Dort lebten die Menschen im Einklang mit Gott, mit der Natur, mit einander und mit sich. Ein rundum harmonisches Leben. Doch damit waren sie nicht zufrieden. Sie wollten mehr. Sie essen vom verbotenen Baum der Erkenntnis. Daraufhin müssen sie das Paradies verlassen. Gott wirft sie einfach raus. Fortan müssen sie außerhalb des Paradieses ihr Leben der Welt mühsam abtrotzen. So erzählt es die Bibel. Und darauf spielt Bryan Adams in seinem Lied an: „This side of paradise“ – zu deutsch: „Auf dieser Seite des Paradieses“. Damit variiert Adams aber das biblische Bild. Bei ihm gibt es kein Drinnen und Draußen, sondern zwei Seiten des Paradieses. Die eine ist in der Nähe Gottes. Die andere einsam, fern von einem geborgenen Leben. Zwar immer noch irgendwie Paradies, aber fern von Gott.

Das Paradies wird also geteilt. Und innerlich geteilt ist auch das Lied. Einerseits besingt Bryan Adams, wie er sich von allen Märchen und Mythen befreit, Paradies inklusive. Andererseits beklagt er, dass das Paradies – dieser Sehnsuchtsort eines einfachen Lebens – verloren ist.

In diesem Dilemma stecken viele Menschen: Befreit von Gott und alleine gelassen zugleich. Im Alltag bleibt das meist verborgen. Da kommen etliche durchaus ohne einen Glauben aus.

Aber insgeheim lebt in vielen doch eine tiefe Sehnsucht nach mehr, als dieses Leben bieten kann. Woher kämen sonst die vielen Paradiese, die einem mehr versprechen als sie halten können? Manchmal in unerträglicher Banalität: Bettenparadiese, Getränkeparadiese und andere mehr.

Und dann gibt es noch den Ernstfall – wenn das Leben außer Rand und Band gerät. Zum Beispiel, wenn man echte Liebe empfindet. Oder die Geburt eines gesunden Kindes erlebt, oder eines Enkels. Das sind Erfahrungen, die den Horizont des Lebens irgendwie übersteigen. Sie lassen eine höhere Macht aufblitzen, der man danken will. Sie verleiht diesem Wunder der Freude den tiefen Sinn, den man so deutlich spürt, auch wenn man ihn nicht präzise benennen kann.

Leben außer Rand und Band – das kann aber auch ganz bitter sein. Etwa wenn man vom Arzt eine ernsthafte Diagnose bekommt. Plötzlich wird bewusst, wie zerbrechlich das Leben ist. Zum Beispiel mit AIDS. Heute vor 30 Jahren wurden die Symptome erstmals als eigene Krankheit beschrieben. Lange Zeit war AIDS praktisch ein Todesurteil für die, die sich mit diesem Virus angesteckt hatten oder angesteckt wurden.

Jede ernste Krankheit macht nachdenklich: Das soll alles gewesen sein? Irgendwie ist das zuwenig. Da fehlt etwas. Leben ist mehr. Das fängt schon damit an, dass da einer sein muss, der den Zorn, die Angst und das Sterben mit einem teilt! Also doch Gott – irgendwie doch?

Es ist kein Zufall, wohin bei Bryan Adams die Reise geht. In seinem Lied singt er: „Ich fahre auf dem Rücksitz einer schwarzen Limousine, gucke aus dem Fenster auf eine Beerdigung. Und ich fange an nachzudenken. Es kommt mir einfach nicht richtig vor. Ich sitze hier sicher und bequem. Und jemand, den ich liebe, der geht einfach in dieser Nacht.“

Den Ernstfall Tod vor Augen, fragt sich Bryan Adams: Bin ich frei ohne Gott? Oder fühle ich mich eher alleine gelassen? Beides scheint zu stimmen. Bryan Adams tut einfach mal so, als könne er an Gott glauben. Er singt von einem Paradies, das es gar nicht gibt. Oder doch? Er singt von einem Glauben, den er gar nicht haben will. Oder doch? Geschichten wie die vom Paradies – die sind nicht wirklich echt. Oder doch? Vielleicht tragen sie doch eine ganz eigene Realität in sich, die anders wahr ist, als es ein Labor beweisen könnte.

Mit seiner inneren Zerrissenheit ist Bryan Adams nah dran an Thomas, dem ungläubigen Jünger von Jesus. Der will Beweise dafür haben, dass Jesus auferstanden ist, dass er also wirklich Gottes Sohn ist. Er hat Glück. Er bekommt seine Beweise. Thomas trifft Jesus. Er sieht den Lebenden und berührt die Wunden der Kreuzigung. Aber Jesus sagt: „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“ Das macht den Glauben heute eben aus, dass er die Grenzen der Beweisbarkeit übersteigt. Deshalb wohnt der Zweifel dem Glauben immer inne, gehört quasi zu ihm wie die Dunkelheit zum Licht gehört.

In dieser Spannung steht das Leben. Man lebt nicht auf der Sonnenseite des Paradieses, allenfalls auf dessen dunkler Schattenseite. Aber immerhin mit Sichtkontakt, wenn man will. Diesen Sichtkontakt zu wollen, das ist schon Glauben. Ob Bryan Adams das will?

In dieser Spannung steht das Leben. Man lebt nicht auf der Sonnenseite des Paradieses, allenfalls auf dessen dunkler Schattenseite. Aber immerhin mit Sichtkontakt, wenn man will. Diesen Sichtkontakt zu wollen, das ist schon Glauben. Ob Bryan Adams das will?