hr2 ZUSPRUCH
hr2
Becker, Michael

Ein Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

00:00
00:00

Das Tränentüchlein

Gesprochen von Pfarrerin Claudia Rudolff

Vor langer Zeit gab es mal: ein Tränentüchlein. Die Geschichte geht so: Wenn eine Braut ihr Elternaus verlässt, um zur Hochzeit in die Kirche zu gehen, bekommt sie von der Mutter auf der Schwelle des Elternhauses noch ein Taschentuch. Aus neuem Leinen. Es ist nur für diesen Tag und nur für diese Frau gemacht.

Ein ungewaschenes Taschentuch im Wäscheschrank

Das Taschentuch hält die Braut in der Hand, wenn der Pfarrer sie und ihren Mann traut. Die Frau kann sich damit Tränen der Rührung abwischen. Am späten Hochzeitsabend legt die junge Ehefrau das Tüchlein dann in ihren Wäscheschrank. Ungewaschen bleibt es dort und wird niemals mehr gebraucht. bis - ja, bis es einst das Gesicht dieser Frau bedeckt, wenn sie gestorben ist. Mit dem Tüchlein wird die Frau auch begraben. Es heißt: Tränentüchlein. (aus „Die Gartenlaube“, Familienblatt, 1913)

Schon bei der Hochzeit an den Tod denken

Was für eine Geschichte. Schon bei der Hochzeit denkt man ans Grab. Man hatte das ganze Leben im Blick, nicht nur die nächsten vier oder sechs Jahre. Und hatte wohl auch weniger Furcht vor dem Satz: ...bis der Tod euch scheidet. Der Tod war immer nahe, sogar bei der Hochzeit in der Kirche. So ehrlich wollte man einfach sein.

Denken Sie ab und zu über den Tod nach?

Schaden wird es nicht, immer mal an den Tod zu denken. Er gehört zum Leben. Manchmal greift er schmerzhaft ein, manchmal sehnen Menschen ihn herbei. Wer die Sinne nicht verschließt, erkennt ihn überall, den Tod. Und wer klug sein will, sagt die Bibel (Psalm 90,12), ist auch ein wenig vorbereitet auf den Tod, soweit das möglich ist. Ich kann an ihn denken. Ich muss nicht so leben, als käme er nie.

Tränen können helfen besser zu sehen

Doch, der Tod kommt auch zu mir. Kein schöner Gedanke, da fließen schon mal Tränen. Die können mir helfen. Wer weint, sieht etwas klarer. Tränen waschen weg, was ich mir manchmal so vormache an Wünschen und Träumen. Übrig bleibt, was wahr ist und ehrlich: Der Tod und die Liebe. Und je kräftiger die Liebe, desto schwächer wird der Tod. Weil Liebe uns etwas vom Himmel bringt. Wo es keine Tränen mehr gibt. Weil Gott selbst sie uns dort wegwischt (Offbarung 21, 1-7). Vielleicht mit einem Tränentüchlein.