Ein gutes Jahr
Ob Sie das Motto des Jahres 2011 schon kennen? Da gibt es ganz verschiedene Vorschläge, was in diesem Jahr besonders ins Blickfeld rücken soll. Die Unesco ruft das ‚Jahr der Wälder’ aus, die Schweizer Sektion der Unesco allerdings möchte dieses Jahr lieber als ‚Jahr der Chemie’ begangen wissen - hoffentlich kein Widerspruch in sich. Gesundheitsminister Rößler hätte gern ein ‚Jahr der Pflege’ und als ‚Europäisches Jahr der Freiwilligkeit’ soll 2011 auch gelten – ob man sich da schon über die Aussetzung der Wehrpflicht klar war? Dass 2011 ein ‚Jahr der Wahlen’ wird, merken wir schon deutlich am Verhalten unserer Politiker. Soweit die offiziellen Pläne und Vorhaben.
Man hat nämlich auch herausgefunden, was sich die meisten Zeitgenossen persönlich für das Jahr 2011 vorgenommen haben: Sie möchten sich mehr Zeit nehmen. Es gibt einen verbreiteten Wunsch nach mehr Gelassenheit – oder, um das schöne alte Wort zu nennen: nach mehr Muße. Das scheint uns zu fehlen: Zeit, Gelassenheit, Muße.
Dabei haben wir doch so viele technische Hilfsmittel, die uns im Beruf und im Alltag Zeit sparen sollen, von der Küchenmaschine bis hin zu modernsten Produktionsabläufen in den Betrieben und natürlich an erster Stelle: der Computer. Doch der Einsatz dieser Mittel scheint eher dazu zu führen, in der selben Zeit noch mehr zu erledigen, noch mehr zu schaffen. Die Folge davon ist: immer mehr wird das Leben beschleunigt. – Die vielen ‚Zeithelfer’, sie machen auch Druck, die Zeit noch mehr auszunutzen, und ‚keine Zeit zu haben’ gilt nicht wenigen sogar als Ausweis, erfolgreich zu sein: man ist gefragt, wichtig, überall nötig.
Die Möglichkeiten modernen Lebens fordern einen hohen Preis, wenn sie sich als Zwänge äußern: immer erreichbar sein müssen, immer informiert, überall dabei, auch bei widrigem Wetter schnell am Ziel. So werden aus möglichen Erleichterungen Belastungen. Und Stillstand bedeutet Rückschritt. Das greift auch auf die Freizeit über: die Angst, etwas zu verpassen, nicht da zu sein, wo es am Tollsten ist, abgehängt zu werden. Und unverplante Zeit wird im Freizeitbereich schnell als Langeweile und damit als unangenehm empfunden. In der beschleunigten Gesellschaft haben nur die Zeit, die am Rand stehen: die Alten, die Kranken, die ohne Beschäftigung, die Gescheiterten. Aber was ist das für eine Zeit und wer hat für sie Zeit?
Ich denke, hinter dem Wunsch nach mehr Zeit für sich, nach Gelassenheit und Muße steckt noch mehr. Für mich bilden diese Wünsche die Sehnsucht nach einem sicheren Grund im Leben und einem Ziel, das ich nicht durch eigenes Bemühen erreichen muss, ab. Zeit für mich und andere habe ich, wenn es ‚Zeit’ nicht nur zu nutzen gilt. Zur Gelassenheit finde ich, wenn nicht alles von mir abhängt, ich mich nicht nur auf mich allein verlassen muss, Muße kann ich dann genießen, wenn Ruhe für mich nicht nur zweckgebundenes Ausruhen ist.
Die Evangelische Kirche in Deutschland hat das Jahr 2011 zum ‚Jahr der Taufe’ erklärt. Was das mit Zeit, Gelassenheit und Muße zu tun hat?
2011 ist das Jahr der Taufe. So hat sich das die EKD vorgenommen. Und das mit Weitblick auf das große Jubiläumsjahr der Reformation 2017. Luthers Thesenanschlag jährt sich dann zum 5oo. Mal. Und in den Jahren davor gilt es, sich auf ein wichtiges Thema der Kirche, des Christentums, zu besinnen. Und was hat die Taufe mit der Sehnsucht nach mehr Zeit, nach Gelassenheit und Muße zu tun?
Vielleicht mag es Sie überraschen, aber Luther war kein Gelassener, sondern oft ein Getriebener. Zeit machte ihm auch Druck, er könnte sie vergeuden. Vor allem aber: Luther war nicht nur ein Glaubender, sondern auch einer, der zweifelte, sogar verzweifelt sein konnte. Seine drängende Frage nach dem gnädigen Gott ist die Frage danach, ob mein Leben einen sicheren Grund hat, ob ich ein erfülltes Leben führen kann, ob mein Leben ein Ziel hat, das ich nicht nur aus eigener Kraft erreichen muss.
So saß Luther häufig grübelnd da – keine angenehme Zeit. In Momenten tiefster Fragwürdigkeit der eigenen Existenz nahm er ein Stück Kreide zur Hand und schrieb vor sich auf den Tisch den Satz: ‚Ich bin getauft’.
Ich bin getauft. Das hatte für Luther entscheidende Bedeutung. Da ist etwas zum Festhalten und Festmachen für’s Leben. Für Luther war die Erinnerung, die Vergewisserung seiner Taufe ein Weg aus Verzweiflung und Zweifeln an Gott und an sich selbst. Ein Weg, anders mit der Zeit umzugehen und ein Weg zur Gelassenheit. Für alle Christen bedeutet die Taufe Lebensgrundlage und Lebensperspektive, denn die Taufe ist ein Zeichen der Liebe Gottes.
Besonders bei der Taufe von kleinen Kindern, aber auch bei der Taufe Erwachsener wird deutlich: ich lebe nicht aus mir allein heraus. Gott sagt ‚Ja’ zu mir ohne eigenes Zutun, ohne dass ich mir seine Zuneigung verdienen müsste oder könnte. Taufe ist ein Zeichen meiner Einzigartigkeit aus Gottes Sicht, verleiht meinem Leben Würde und Sinn, ganz unabhängig von dem, wie ich bin, was ich kann, oder was ich habe. ‚Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu’ wird in einem modernen Tauflied gesungen, und das gilt, auch wenn andere oder ich mich selber mich für alles andere als genial halten. Gottes ganz eigene Zuwendung wird so zu meiner Lebensgrundlage. Das, was ich am Nötigsten brauche, worauf es alle Zeit ankommt: Liebe. Dieser Zuspruch der Taufe gilt für alle Zeit.
Und die Zeit? Meine Zeit ist eine, die Gott mir schenkt. Ich brauche sie mir von nichts und niemand stehlen zu lassen. Auch Zeit, die mir vertan, durch Leid getrübt oder sinnlos erscheint bleibt eine Zeit, die Gott mir gibt. Kein einfacher Gedanke, zu Zeiten nicht leicht zu ertragen. ‚Meine Zeit steht in deinen Händen’, es sind die liebevollen, die tröstenden, ermunternden Hände Gottes, die mich auffangen, wenn ich falle, die dieses Bibelwort beschreibt.
Taufe heißt auch: ‚Du bist erlöst.’ Du gehörst zu mir und das kann dir niemand nehmen, sagt Gott. Das schenkt Gelassenheit. Im Umgang mit meiner Zeit, im Umgang mit mir und im Umgang mit anderen – für die gilt Gottes Zuspruch auch. Ich kann mich nicht selbst erlösen, auch nicht andere; ich brauche es auch nicht, denn das hat Gott längst in Jesus, dem Christus, für mich getan. Alles, was ich tun kann und darf, ist darauf Vertrauen in allem Zweifel. Denn auch das ist die Zusage der Taufe- Gott sagt: ‚Ich bleibe bei dir, auch dann, wenn du das schon nicht mehr wahrhaben kannst.’ So, wie es Jesus erlebt hat in Kreuz und Auferstehung. Aus der Taufe, aus der geschenkten Zeit, kann Gelassenheit als Lebenshaltung erwachsen. Ich muss nicht alles selber schaffen oder erreichen, das Wichtigste ist schon für mich da: In Gottes Liebe bleiben über alle Zeit hinaus. Und was ist nun mit der Muße?
Dass Müßiggang aller Laster Anfang sei, ist kein Bibelwort. Muße zu haben entspricht Gottes Willen seit dem 7. Schöpfungstag. Muße ist auch nicht nur Ruhe, Muße muss nicht leise sein, sie bedeutet nicht allein sein müssen - Muße ist eine Kunst.
Das für mich schönste Lutherbild zeigt ihn im Kreis seiner Familie und Freunde. Er sitzt mittendrin, am Tisch. In seinen Händen ist eine Laute. Einige hören zu, andere singen mit Luther. Es mag laut zugegangen sein, und offensichtlich fröhlich. Da hat einer etwas gefunden, was ihm Spaß macht, er erlaubt es sich und die anderen machen mit. Das findet seinen Sinn in sich selbst, das ist eine gute Zeit.
Zur Muße finden ist manchmal und gerade in der beschleunigten Zeit nicht leicht. Mir hilft die Musik - die, die ich mache, und die, die ich hören darf. Auch Lesezeiten, Zeiten zum Träumen, Zeiten zum Besinnen, Spielzeiten, Besuchszeiten und zeitlose Momente gehören zur Muße. Wenn ich durch die Taufe meine Zeit als Geschenk Gottes erkennen kann, darf ich sie mir auch nehmen. Ich kann mir und anderen Zeit gönnen. Und ich kann gelassen sein, denn meine Zeit ist bei Gott in guten Händen, er hält das Ziel meiner Zeit schon für mich bereit – bei Gott sein über alle Zeit hinaus.
2011 ist das ‚Jahr der Taufe’. In der Vergewisserung der Liebe Gottes, für die die Taufe ein Zeichen ist, möge es ein gutes Jahr werden – mit viel Zeit, Gelassenheit und Muße.