Jeden Tag wachsen
Als Pfarrersfamilie sind wir in die Nachbarschaft eines Kindergartens gezogen. Unser Badezimmer ist genau gegenüber. In den ersten Tagen nach unserem Umzug ging ich rüber zu den Kindern. Sie kannten mich schon.
Ein Junge lief auf mich zu und rief: „Frau Helms, ich habe dich heute morgen ganz nackig gesehen!“ Ich musste lachen. Dann war die Milchglasscheibe wohl doch nicht so dicht, wie ich dachte.
Ich sagte zu ihm: „Dann hast du mich so gesehen, wie Gott mich geschaffen hat.“ Ganz ungläubig schaute er mich von unten bis oben an und erwiderte: „Soooo groß hat dich der Gott gemacht?“ Ich fand das lustig: Da fragt sich dieses Kind doch tatsächlich, ob ich fix und fertig als Erwachsene auf die Welt gekommen bin.
So schnell wie er gelaufen kam, war er auch schon wieder weg und spielte weiter. Irgendwie hat der Junge ja Recht. „Soooo groß hat dich der Gott gemacht?“
Ja, so groß hat er mich gemacht. Gott hat mich ja nicht nur als einen Millimeter großen Zellhaufen geschaffen, und auch nicht nur als Baby auf die Welt kommen lassen, das sich alleine abstrampeln muss. Er, der mich geschaffen hat, bleibt dran und sorgt für mich. Er dreht sich nicht einfach um und geht weg. Gott erhält mein Leben und lässt es wachsen. So geht die Schöpfung immer weiter.
Dabei bleibe ich natürlich immer die Selbe. Aber wenn ich morgen in den Spiegel schaue, bin ich nicht mehr die Gleiche wie heute. Damit meine ich nicht nur, dass ich jeden Tag ein Stückchen älter werde. Das auch. Den Gesetzen der Vergänglichkeit kann sich keiner entziehen. Aber dagegen setzt Gott sein großes Versprechen.
Er sagt: ich mache dich jeden Tag neu. Ich gebe dir jeden Tag neu die Möglichkeit, mehr so zu werden, wie du bist. Du bekommst von mir Kraft, dich zu entfalten. Du bekommst Phantasie, damit du dein Leben intensiver leben kannst.
Dass ich groß geworden bin und so bin wie ich jetzt bin – dafür habe ich einiges getan. Und auf manches bin ich richtig stolz. Aber vieles hat sich auch einfach ergeben und ist mir in den Schoß gefallen. Und ich glaube, an beidem ist Gott beteiligt. An dem, was ich selbst gemacht habe und an dem, was mir zufiel.
In allem, was lebt, ist eine Grundkraft am Werk. Sie ist unerschöpflich und macht, dass das Leben spannend bleibt. Ich muss nicht mein Leben alleine stemmen. Gott schafft am Geschaffenen. Gott ist kreativ. Er schafft auch an mir. Da kann ich ihn einfach machen lassen und darauf vertrauen, dass er es gut macht.
Wenn ich den Jungen aus dem Kindergarten noch mal treffe – ich weiß jetzt, was ich ihm gerne sagen würde: Klein anfangen und erst allmählich größer werden, das ist manchmal ziemlich anstrengend. Aber Großwerden ist auch ein Geschenk. Gottes Geschenk an die Menschen. Jeden Tag wachsen. Jeden Tag Neues entdecken. Das geht auch noch so weiter, wenn man schon groß ist.
