
Von der Kraft der Kerzen
Jedes Jahr im November verwandelt sich der Bergfried einer der Burgen mitten im hessischen Schlitz. Aus dem runden Aussichtsturm wird die größte Kerze der Welt. Über den 36 Meter hohen Burg-Turm wird eine Hülle aus rotem Tuch gestülpt. Oben schmückt ihn eine 6 Meter hohe Flammennachbildung aus vielen Lampen. An jedem Abend im Advent ist das ein ergreifender Anblick. Mehr Kerze geht nicht - und die Schlitzer im Vogelsbergkreis stehen damit auch im Guinness Buch der Rekorde.
Weniger um Rekorde als um Kerzen geht es in dieser Morgenfeier. Ich lade Sie ein, der Herkunft, Bedeutung und Symbolkraft der Kerzen nachzuspüren.
Kerzen zu Advent und Weihnachten
Ohne Kerzen sind Advent und Weihnachten in den nördlichen Breitengraden gar nicht denkbar. Die Kerzen müssen nicht so groß sein wie die in Schlitz. Und Menschen zünden ja nicht nur im Advent Kerzen an. Sie spielen das ganze Jahr über eine wichtige Rolle.
Kerzen brennen, wo Hoffnung aufleuchten soll
Ob am Ewigkeitssonntag, an Allerseelen und Allerheiligen, im Gottesdienst, bei Beerdigungen oder an den Gräbern: Wo wir der Toten oder Lebenden gedenken, sind eigentlich immer Kerzen im Spiel. Brennende Kerzen stehen für Leben. Für den Tod gibt es kaum ein einprägsameres Bild als eine erloschene Kerze, die noch etwas qualmt. Kerzen brennen da, wo man das Leben spüren und Hoffnung aufleuchten lassen will.
Gott lässt es hell werden
Wie jetzt im Advent und an Weihnachten. Das Strahlen der Kerzen, ihr Glanz und ihre feierliche Aura versinnbildlichen, was Advent und Weihnachten bedeuten: Gott lässt es hell werden. Aber Gottes Helligkeit lässt sich nicht einfach in Watt, Lux oder Lumen messen, denn es soll in den Menschen hell werden.
Mache Dich auf und werde Licht, denn dein Licht kommt. Und der Glanz Gottes geht auf über Dir. (Jesaja 60,1)
Diese Herzenshelligkeit versinnbildlichen Kerzen viel mehr als elektrische Lichter. Woher kommen die Faszination und die Kraft der Kerzen? Das Internet ist da keine Hilfe. Wenn man „Kraft der Kerzen“ eingibt, findet die Suchmaschine nicht zuerst Wärme, Wachs und Weihnacht. Nein, sie wirft Fundstellen zu Motorspaß und Zündkerzen aus. So wichtig Zündkerzen, Flutlichter und Straßenlaternen sind: weder ihre Kraft noch ihr Licht führen auf die Spur der Kerzen. Beleuchtungstechnisch gesehen sind Kerzen heute ja völlig überflüssig. Jede Taschenlampe und jedes Smartphone überbieten die Kerze bei der Lichtausbeute. Dennoch verbraucht jede und jeder hierzulande jährlich im Schnitt gut zwei Kilo echte Kerzen.
Eine kleine Kerzen-Geschichte
Warum Kerzen heute diese Bedeutung haben, zeigt sich, wenn man in der Kerzengeschichte zurückgeht: Vor gut hundert Jahren zieht in unseren Breiten das elektrische Licht in fast jeden Haushalt ein. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts kommt es meist aus der Glühbirne. Und das auf Knopfdruck. Das umständliche Anzünden ist Geschichte. Seither sind die Kerzen aus dem Alltag verschwunden. Einmal abgesehen vom Notnagel bei Stromausfällen.
Bienenwachs und Stearin
Nochmal früher, vor zweihundert Jahren, werden die Kerzen erstmals für alle erschwinglich und gut. Vorher waren in gewöhnlichen Haushalten sogenannte Unschlitt- oder Talgkerzen in Gebrauch, die aus unreinen tierischen und pflanzlichen Fetten bestanden. 1818 aber entdeckt man ein Verfahren, um aus diesen Fetten reines Stearin zu gewinnen. Stearin brennt gleichmäßig und rußt nicht. Das konnten zuvor nur die sehr teuren Kerzen aus Bienenwachs oder aus Walrat. Alle anderen verdienten eigentlich den Namen „Kerze“ nicht; es waren rußende, flackernde, nervige Lichter. Kerzen aus Bienenwachs aber waren jahrhundertelang dem Adel und vor allem den Kirchen vorbehalten. Seit dem Mittelalter ist „Kerzen herstellen“ ein eigener Beruf. Bis heute gibt es den Lehrberuf „Wachszieher“.
Die Römer, Erfinder der Kerzen
Die ersten Kerzen überhaupt kommen im 1. Jahrhundert zum Vorschein. Die Römer hatten wohl ein Verfahren der Etrusker weiterentwickelt. Sie schafften es, feste Fette und Talg mittels eines Dochtes zum langsamen und relativ rußfreien Abbrennen zu bringen. Sie gelten damit als „Erfinder“ der Kerze, haben das Prinzip aber eigentlich nur verfeinert. Denn es ist viel älter. Jedenfalls, wenn man auf den Docht schaut. Flüssige Öle konnten schon lange mittels Dochtes zum Leuchten gebracht werden. Ohne diese Öllampen hätte es keine frühen Hochkulturen gegeben. Das Prinzip der Öllampe hat sich bis heute nicht geändert, aber der Brennstoff: Petroleum erzeugt ein viel helleres und heißeres Licht als z.B. Olivenöl.
Wann der Docht erfunden wurde
Die Erfindung des Dochtes selbst ist mindestens 40.000 Jahre alt. Man kann nachweisen, dass unsere Vorfahren pflanzliche Öle und tierische Fette in Steinschalen zum kontrollierten Brennen und Leuchten gebracht haben, und zwar mittels eines Dochtes aus Binse, Stroh oder Schilfrohr. Wie hätten sonst wunderbare Höhlenmalereien entstehen können? Im Stockdunkeln sicher nicht. Der Kampf gegen die Dunkelheit ist also ein uraltes Bedürfnis der Menschen. Davon mehr nach der Musik.
Musik: Michael Praetorius, Branslede la torche, Courante (Kammerchor der Frauenkirche Dresden, Instrumenta Musica, Matthias Grünert)
Der Kampf gegen die Dunkelheit
Schon immer kämpften Menschen gegen die Dunkelheit. Dass sie das Feuer entdeckten und selber Feuer machen lernten, ist das für das Menschwerden selbst nicht hoch genug einzuschätzen. Seit einer Million Jahren spielen Menschen mit dem Feuer, bringen daran die langen Abende zu. Irgendwann entdecken sie auch die Kapillarwirkung, also die Sogwirkung entgegen der Schwerkraft. So erfinden sie den Docht. Und damit auch die Möglichkeit, Feuer weiter zu domestizieren. Es handhabbarer zu machen, Licht mitnehmen zu können in eine Höhle. Ins Dunkle.
Feuer und Licht in den Religionen
Den Gegensatz von Leben und Tod haben die Menschen von Anfang als Gegensatz von Licht und Dunkelheit und von Wärme und Kälte erfahren. Entsprechend spielen Feuer und Licht in allen frühen Religionen eine herausragende Rolle – auch im Schöpfungsbericht am Anfang der Bibel:
Die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.“ (1. Mose, 1, 2-5)
Beim Auszug aus Ägypten begleitet Gott selbst das Volk Israelals Wolkensäule und Feuerschein. Im gelobten Land finden die Israeliten schon Olivenbäume vor, in Jericho zum Beispiel sind sie schon 4000 vor Christus nachweisbar. Und mit Olivenöl betreibt man Öllampen, und auch den siebenarmigen Leuchter im Tempel: So heißt es im 2. Buch Mose:
Gebiete den Israeliten, dass sie zu dir bringen das allerreinste Öl aus zerstoßenen Oliven für den Leuchter, dass man ständig Lampen aufsetzen könne. (2. Mose 27,20)
Der glimmende Docht
Als später der Tempel zerstört ist, erzählt der Prophet Jesaja von Gottes Auserwähltem. Dieser wird, so wörtlich, „das geknickte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen!“ Und jede und jeder weiß damals, was gemeint ist. Auf der Sachebene auf jeden Fall: man kann einen glimmenden Docht schützen und wieder entfachen. Und alle verstehen den Propheten Jesaja auch auf der bildlichen Ebene: Jerusalem ist selbst zerstört und Israel fast ausgelöscht, wie ein nur noch glimmernder Docht. Viele leben mehr schlecht als recht im Exil in Babylon. Der glimmende Docht, der nicht ausgelöscht wird, ist ein großartiges Hoffnungsbild. Erst recht, wenn sich diese Hoffnung mit Gottes Auserwähltem verbinden kann, der selbst nicht verlöschen wird, bis er Recht und Gerechtigkeit bringt.
Jesus ist Hoffnung und Licht
Dass dieser Auserwählte nur Jesus sein kann, davon sind Jahrhunderte später die ersten Christen überzeugt. Dass er Hoffnung und Licht ist, gipfelt im Johannesevangelium in den Sätzen Jesu:
Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Johannes 8,12)
Musik: Florian Ross, Piano Interlude
Die klugen und die törichten Jungfrauen
Jesus kennt noch keine Kerzen, aber sicher Öllampen. Er erwähnt sie im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen, die auf den verspäteten Bräutigam warten. Die törichten haben leider vergessen, Öl für ihre Lampen mitzunehmen, nur die klugen haben welches dabei. Und verstehen etwas davon, wie wichtig es ist, das Licht und damit die Hoffnung zu hüten.
Bienenwachskerzen als Luxusgut
Öllampen sind auch bei den Römern nördlich der Alpen gebräuchlich, setzen sich aber auf Dauer nicht durch. Wahrscheinlich stehen nicht genügend Ölfrüchte zur Verfügung und die Menschen brauchen diese eher als Nahrung. Im Mittelalter verwenden die Menschen im Alltag Kienspäne, um Licht zu machen. Später kommen dann auch die Unschlittkerzen oder Talglichter hinzu. Aber die wirklich schönen, hellen, ruhig brennenden Kerzen, die gibt es nur in der Kirche. Weiße Bienenwachskerzen sind ein echtes Luxusgut. Denn Bienenwachs ist begrenzt und ist von Natur aus gelblich. Es muss zum einen langwierig in der Sonne gebleicht werden. Und zum anderen produziert ein Bienenvolk im Jahr höchstens ein Kilo Wachs. Der Bedarf der Kirche aber ist riesig.
Die Osterkerze
Der entscheidende Grund dafür: Wenn Christus das Licht der Welt ist, dann muss die Osterkerze, die dieses Licht widerspiegelt, natürlich aus dem besten Material mit der reinen, nicht rußenden Flamme sein. Das leuchtet unmittelbar ein. Und die großartige Lichtsymbolik der Bibel kann nicht auf den rußenden und flackernden Kienspan übertragen werden: Aber auf die schöne Flamme der Bienenwachskerze.
Die Honigbiene als Sinnbild von Maria
Es ist aber nicht nur das ruhige Brennen, das die Bienenwachskerze zum Symbol Christi werden lässt. Es geht auch darum, woher Bienenwachs kommt. Denn die Kirchenväter, also die Theologen einige Jahrhunderte nach Christus, sind fälschlicherweise von einer Sache völlig überzeugt: Jede Biene ist und bleibt jungfräulich, vermehrt sich also ohne Geschlechtsverkehr, zieht einfach nur fleißig ihre Brut auf und schenkt den Menschen Honig und Wachs. Die Honigbiene wird so zum Sinnbild der Jungfrau Maria. Und die Osterkerze ist folglich aus jungfräulichem Bienenwachs.
Die Bienenwachskerze - ein Gottesgeschenk
Die Bienenwachskerze ist also ein Gottesgeschenk: sehr kostbar und unverzichtbar im sakralen Geschehen. So entsteht im Mittelalter um Bienenwachs für die Kirchen eine eigene Kultur. In einigen Gebieten ist Bienenwachs eine eigene Währung. Man kann damit bezahlen. Und Gerichte verhängen sogenannte „Wachsstrafen“: kleinere Vergehen können mittels Bienenwachses gebüßt werden, das dann der Kirche gespendet werden muss. Und wer in eine Zunft aufgenommen werden will, muss eine bestimmte Menge Wachs oder Kerzen an die Kirche geben.
Nun lagen die Kirchenväter mit der Annahme der Jungfräulichkeit der Bienen daneben. Doch erst im 19. Jahrhundert wird das durch Naturbeobachtung widerlegt. Etwa gleichzeitig bekommt Bienenwachs mit Stearin und Paraffin billige Konkurrenz. Licht wird zunehmend mit Petroleum oder Gas erzeugt.
Die symbolische Kraft der Kerzen
Man könnte annehmen, dass damit auch die symbolische Kraft der Kerzen langsam erlischt. Das Gegenteil ist der Fall. Je weniger sie für alltägliche Dinge gebraucht werden, desto mehr werden sie etwas Besonderes und Geschätztes. Außerdem kann sich jetzt jede und jeder Kerzen leisten, schöne Kerzen. Jede und jeder kann das Symbol haben und handhaben. Kerzen steigern das Leben. Jede wichtige Feier braucht Kerzen, ob auf dem Kuchen, auf dem festlich gedeckten Tisch - oder als starkes Zeichen: so vor allem die Taufkerze.
Was in jeder brennenden Kerze aufleuchtet
In jeder brennenden Kerze leuchtet unendlich viel auf. Fünf Beobachtungen:
- Da ist zum einen der eine Million Jahre zurückreichende Kampf der Menschen gegen die Dunkelheit.
- Da ist als Zweites die Zähmung des Feuers in einer Flamme, die lebendig ist und nie außer Kontrolle geraten darf. Denn in jeder Kerzenflamme ist die ganze Kraft des Feuers, das am liebsten unersättlich wütet. Weshalb Kerzen in Altersheimen und Kindergärten inzwischen verboten sind.
- Die dritte Beobachtung sieht die Ruhe und das Erhabene, das eine brennende Kerze ausstrahlt. Sie zieht den Blick an. Sie lädt ein zum Innehalten, Verweilen und Meditieren. Ihr warmes Licht ist wohltuend und entspannend.
- Viertens ist es die Vorstellung in eigentlich allen Religionen, dass das Licht göttlich ist und für Leben steht. Deshalb wird die Kerze gerade auch im Medienzeitalter, im Fokus von Kameras und Scheinwerfern weltweit als Symbol verstanden.
- Und schließlich ist da auch die uralte Vorstellung vom Lebenslicht. Dass Menschen wie Kerzen sind, oder ihre Lebensspanne gespiegelt ist und abhängig von einer Kerze im Himmel oder sonst wo. Das findet sich quer durch die Zeiten: In der griechischen Mythologie ebenso wie in Elton Johns Ballade „Candle in the wind“. Zuerst geschrieben für Norma Jean, also Marilyn Monroe, und später aktualisiert für Lady Diana, nach deren Tod 1997.
Musik: Elton John, Candle in the wind
Kerzen und Protest 1989
Die kleine, verletzliche Flamme einer Kerze, - ein Windhauch löscht sie aus – sie hat eine große Kraft. So tragen Kerzen dazu bei, dass die Protestmärsche und die Revolution im Hebst 1989 friedlich bleiben. Der SED-Funktionär Horst Sindermann sagt später: „Auf alles waren wir vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete“. Diese Kerzen und Gebete - und der immer wiederholte Ruf „Keine Gewalt!“ sind die direkte Folge der Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche und anderswo. Jede Kerze strahlt die Botschaft aus: Ich bin verletzlich, aber ich bin da! Und ich will leben! Und das zigtausendfach.
In jeder Kerze schimmert eine tröstende Zusage
Für Christinnen und Christen bündeln sich in jeder Kerze Advent, Weihnachten und Ostern. Als Zeichen der Hoffnung auf Frieden und Leben. Denn der Glaube an Jesus als Licht der Welt schenkt das Licht des Lebens. Und dem kann letztlich auch die Finsternis des Todes nichts anhaben. In jeder Kerze schimmert eben auch die tröstende Zusage: Gott wird den glimmenden Docht nicht auslöschen. Will heißen: Gott kennt keine ausweglosen Situationen. Gott erbarmt sich und ist gerade dort, wo das Leben bedroht ist, zu erlöschen und zu zerbrechen droht. Gott schenkt Hoffnung, wo alles zu Ende scheint.
Mache Dich auf und werde licht, denn Dein Licht kommt. (Jesaja 60,1)
Die vielen Kerzen im Advent und an Weihnachten erinnern daran: Gott kommt. Sie helfen, licht zu werden. Sie erhellen das Dunkel und machen es hell im Herzen.
Musik: Keith Hampton, True Light (Wolfram Teßmer, Avis Berry, Tanja Letz)
Musikkonzept: Kantor Uwe Krause