Weihnachten ist auch ‚nur‘ ein Osterfest!
Ich gehöre noch zu denen, für die Weihnachten erst an Weihnachten anfängt. Mir macht es Freude und Sinn, den Unterschied zu wahren zwischen dem Advent als Vorbereitungszeit und dem Fest, das dann beginnt. Weihnachten ist am heutigen Sonntag, 28. Dezember, für mich also noch recht frisch und unverbraucht. Und die Tage jetzt, die das Fest fortsetzen, liefern mir wichtige weihnachtliche Motive, die sonst leicht übersehen werden.
Ich hoffe darum, dass ich niemanden langweile, wenn ich heute, sozusagen am „vierten Feiertag“ immer noch von Weihnachten spreche, während andere schon die Entsorgung des Tannenbaums vorbereiten und die Koffer für den Winterurlaub packen.
Ich möchte Ihnen heute erzählen, warum aus meiner Sicht Weihnachten auch „nur“ ein Osterfest ist; „nur“ allerdings in Anführungsstrichen. Und ich spitze das Thema sogar noch bisschen zu und sage: „Vorsicht Weihnachten - Lebensgefahr!“
Ein Schatten auf das „lichte Fest“
Ich erzähle Ihnen heute von Weihnachten aus der „Perspektive 26. und 28. Dezember“. Diese Tage werfen ein Licht auf das Fest, in dem eben recht deutlich Passions- und OsterMotive aufscheinen. Nicht, dass ich jemandem die Freude am idyllischen Weihnachtsfest verderben will. „Weihnachten als Fest der Liebe und der Familie“ ist voll in Ordnung. Bleiben Sie da bitte ganz dem verbunden, was für Sie persönlich wichtig und schön ist. Aber vorbringen möchte ich meine Beobachtungen schon, was an Weihnachten doch recht „karfreitaglich“ und „osterhaft“ anmutet.
Ich beginne damit mal ganz behutsam musikalisch. Ich hab ein Stück aus Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium mitgebracht und lade dazu ein, darauf zu hören, ob jemandem die Musik vielleicht aus anderen Zusammenhängen bekannt vorkommt…
Musik 1: Johann-Sebastian Bach, Nr. 5 Choral: „Wie soll ich dich empfangen“ (CD Weihnachtsoratorium BWV 248, Ton Koopman & Amsterda, Baroque Orchestra)
Die Musik für diesen anrührenden Gesang einer weihnachtlich für Jesus empfangsbereiten Seele kennen wir aus einem unserer berühmtesten Trauerlieder: „Oh Haupt voll Blut und Wunden“. Bach hatte es früher in seiner Matthäuspassion in eben dieser Weise verwendet:
Musik 2: Johann-Sebastian Bach, Nr. 54 Choral: „O Haupt voll Blut und Wunden“ (CD St. Mathew Passion BWV 244 , Collegium Vocale, Philippe Herreweghe)
Der Zusammenklang von Weihnachten und Ostern
Wie kommt das Trauerlied ins Weihnachtsoratorium? Einerseits hat Bach oft wohl recht pragmatisch Melodien mehrfach verwendet. Andererseits sind seine Werke theologisch durchdacht und von einem tiefen Glauben spirituell getragen. Ich glaube daher, dass ihn durchaus Glaubensgründe dabei leiten, den weihnachtlichen Text mit dieser „karfreitaglichen“ Musik zu verbinden. Ich liefere später noch einen Beleg, den ich ebenfalls so deute, dass Johann-Sebastian Bach den Zusammenklang von Weihnachten und Ostern sehr bewusst inszeniert.
Da passt jetzt mein Blick auf Weihnachten aus der „Perspektive 26. und 28. Dezember“. Weihnachten ist als „Fest der Liebe“ ein höchst positives Ereignis, darum auch fröhlich und froh. Aber es ist auch ein ernstes Fest. Dieses Moment übersieht man leicht in der verständlichen Sehnsucht nach Glück und Harmonie an Weihnachten. Mit der Geschichte der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem war niemals eine Idylle verbunden. In der Herbergslosigkeit der Familie Jesu und seinem hölzernen Futtertrog als Wiege kann man symbolisch bereits die spätere Ablehnung und sein Kreuz vorgezeichnet sehen.
Martyrium und Schmerz gehören zum Fest
Aus diesem Grund feiern christliche Kirchen am zweiten Weihnachtsfeiertag, dem 26. Dezember, das Gedenkfest des ersten christlichen Märtyrers. Stephanus war Diakon in der Jerusalemer Urgemeinde. Er übte dort einen wichtigen sozialen Dienst aus. Die biblische „Apostelgeschichte“ erzählt von seiner Steinigung. Das Jerusalemer Establishment hatte das Volk gegen ihn aufgewiegelt. Sich christlich zu verhalten und sich zu Jesus zu bekennen, kann also gefährlich werden. Es provoziert die Gegner unter Umständen so sehr, dass ihnen jedes Mittel recht ist. Daher meine Zuspitzung: „Vorsicht Weihnachten! Lebensgefahr!“
Symbolisch greift z.B. auch das berühmte Adventslied „Maria durch ein Dornwald ging“ diese Spannung auf, dass mit weihnachtlicher Freude im Tiefsten immer auch Leid und Schmerz verbunden sind.
Musik 3: Traditional, Arr. Stefan Claas, „Maria durch ein Dornwald ging“ (CD Equinox, Voces 8)
Die „Dornen tragen Rosen“: Schmerz, Dunkelheit und Leid verwandeln sich in blühendes Leben, aus Passion wird Ostern – schon an Weihnachten – zumindest in Andeutung. Hier klingen biblische Worte mit, die auch aus dem Zusammenhang der „Tage nach Weihnachten“ stammen. Im Lukasevangelium wird (ab Lukas 2,22) erzählt, wie Maria und Josef das Jesuskind zur rituellen Reinigung in den Tempel bringen. Dort begegnen sie zwei frommen, alten Menschen, Hanna und Simeon. Sie sehen in dem Kind den erwarteten Messias. Simeon ahnt aber auch das Lebensdrama, das Jesus bevorsteht. Er bereitet Maria mit den düsteren Worten darauf vor: „Er (Jesus) wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird, und deine Seele wird ein Schwert durchdringen.“ (Lukas 2,34-35) Auch das gehört zu Weihnachten…
Der Kindermord von Bethlehem
Und diese ernste Seite des Festes findet am heutigen 28. Dezember einen dramatischen Höhepunkt. Das hängt auch mit dem Fest der heiligen drei Könige am 6. Januar zusammen.
Weise aus dem Morgenland hatten von der Geburt Jesu gehört: ein neuer König für Israel. Ein Stern hatte sie aufmerksam gemacht und geleitet. Sie versetzen mit ihrer „frohen Botschaft“ vom „neuen König für Israel“ den gerade regierenden Herodes in helle Aufregung. Der gibt sich gegenüber den Weisen zwar betont freundlich, damit sie zu ihm zurückkehren und ihm verraten, wo der „neugeborene König“ zu finden sei. Als sie das jedoch nicht machen, fühlt er seine Macht so bedroht, dass er wütend befiehlt, in Bethlehem und Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren zu töten. Weil aber ein Engel Josef, Jesu Vater, im Traum befohlen hat, nach Ägypten zu fliehen, entkommt das Jesuskind der mörderischen Raserei. Despotie, politischer Mord, Flucht und Vertreibung gehören also vom ersten Moment an zu seiner Geschichte.
Das Fest der unschuldigen Kinder
Und darum feiern am heutigen 28. Dezember die christlichen Kirchen das Fest der „Unschuldigen Kinder“, also all derer, die die Machtgier von Herodes damals, aber eigentlich auch der Mächtigen aller Zeiten das Leben kostete. Und Kindern gegenüber ist jedes Elternteil mächtig, jede Erzieherin und jeder Lehrer, jeder Pfarrer und jeder Trainer… Auf die Gewalt gegenüber „unschuldigen Kindern“ hinzuweisen, auch das ist „österliche Weihnacht“.
Davon singt ein englisches Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert:
Im Stil eines Schlafliedes betrauern die Singenden: „Was können wir heute tun, um den armen Jüngling zu schützen… Herodes hat in seiner Wut die Abschlachtung aller kleinen Jungs befohlen. …Mir ist so weh um dich, armes Kind, weil es zu deinem Verschwinden kein Wort gibt und kein Lied. Bai, bai, luli, lulai…“
Musik 4: Traditional, Arr. Barnabay Smith, „Coventry Carol“ (CD Christmas, Voces 8)
(Der Text stammt aus dem Pageant of the Shearmen and Tailors, einem Mysterienspiel aus Coventry aus dem 15. Jahrhundert.)
Menschwerdung heißt: Gott wird Kind
Kindermord in Bethlehem. Das ist weder schön noch fröhlich; aber es ist gut und wichtig, daran zu erinnern. Das Gedächtnis dieser geschundenen Kinder klingt ja im Weihnachtsfest zusammen mit dem wundervollen Akzent, den das Fest dem Kindsein überhaupt verleiht: Gott wird in Jesus nicht nur Mensch, nein, er wird vor allem Kind! Er adelt und betont damit all die Aspekte, die mit dem Kindsein verbunden sind. Dass Gott uns Menschen nach seinem Ebenbild erschuf, wird eben nicht am schillernden König sichtbar! Erst recht nicht am despotischen Herrscher, auch nicht an sonstigen großen, klugen, reichen und einflussreichen Leuten, sondern – seit Weihnachten - besonders am Kind: Voller Liebe und Vertrauen, aber natürlich auch schwach, abhängig und gewaltlos. In der Machtlosigkeit liegt seine Stärke.
Das zeigt glasklar den Platz und die Methode Gottes auf Erden. „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder!“ wird der erwachsene Jesus später sagen (Matthäus 18,3), „dann kommt ihr nicht in den Himmel!“ Er bleibt damit der Wertschätzung des Kindlichen treu, die bereits seine Geburtsgeschichten an Weihnachten grundgelegt haben.
… an die Seite der Kinder
Das bedeutet für mich und für alle Christen und ihre Kirchen, wir gehören absolut an die Seite der Kinder! Sie ins Leben zu begleiten und vor allem Bösem zu beschützen ist – ich sage es bewusst mit Pathos – heilige Pflicht! Dem haben viele Christinnen und Christen in Kindergärten und Schulen, in Erstkommunion- und Konfirmandengruppen, in kirchlicher Jugendarbeit und caritativer Fürsorge durchaus entsprochen. Das ist verdienstvoll und schön und im frohesten Sinne weihnachtlich.
Und doch sind wir Erwachsenen den Kindern aller Zeiten auch unendlich viel schuldig geblieben und haben uns bis heute an ihnen schuldig gemacht – auch und gerade als Kirchen! Gegen Machtmissbrauch und Kindesmissbrauch anzukämpfen – auch das ist Weihnachten!
Ostermomente in Weihnachtsliedern
Jetzt habe ich schon einige Elemente von Passion und Auferstehung in der Weihnachtsgeschichte vorgestellt. Nun ein letzter Aspekt: Viele Advents- und Weihnachtslieder verbinden in ihrer geistlichen und theologischen Botschaft die weihnachtliche Ankunft Jesu in der Welt mit seinem späteren Leiden am Kreuz und mit der österlichen Überwindung des Todes. Sie stellen damit quasi selbst Weihnachten als Osterfest dar.
Eines meiner liebsten Lieder, das ganz deutlich Weihnachten mit Ostern verbindet ist „Es kommt ein Schiff geladen“. Hören wir die beiden „österlichen“ Strophen (5 + 6):
Musik 5: Anonym & Daniel Suderman, „Es kommt ein Schiff geladen“, Strophen 5 + 6 (CD Nova, Nova; Christmas Carols from Europe, The Playfords)
Mit diesem „Ostermoment“ wollen die Lieder alle Menschen, die Weihnachten feiern, mitnehmen in die frohe Ernsthaftigkeit eines aktiv-christlichen Lebens. Weihnachten soll sich praktisch auswirken – ganzjährig! Erstens: Wir nehmen die Liebe in uns auf, die Jesus in die Welt bringt und geben sie anderen weiter. Die zweite Wirkung wäre das „österliche“ Moment: Wir Menschen wirken mit an der Überwindung des Bösen - der „Sünde“ - und sogar an der Überwindung des Todes. Weihnachten macht uns zu „Handlangern der Liebe Gottes“ und zu „Vorarbeitern der Auferstehung“.
Selbst unser wohl romantischstes Weihnachtslied „Ihr Kinderlein kommet“ enthält ein solches österliches Moment. Aber viele kennen es gar nicht und überspringen die entsprechende 5. Strophe. Ich habe keine einzige Aufnahme gefunden, in der sie gesungen wird: „O betet: Du liebes, Du göttliches Kind, was leidest Du alles für unsere Sünd'! Ach, hier in der Krippe schon Armut und Not, am Kreuze dort gar noch den bitteren Tod.“
Ein besonderes Lied – und Bachs Pointe
Einige Lieder gibt es, in denen wird dieser Weihnachts-Oster-Zusammenklang besonders intensiv vorgestellt. Das Lied: „Du Kind in dieser heilgen Zeit“ steht zwar sowohl im katholischen wie im evangelischen Gesangbuch, wird aber in beiden Kirchen nur selten gesungen. Wahrscheinlich, weil der Passionscharakter fast stärker ist als die weihnachtliche Freude, wenn es z.B. heißt „An deiner Krippe gähnt das Grab…“ (3. Strophe). Mir gefällt aber gerade, wie hier der „weihnachtliche Ernst“ zur Sprache kommt:
Musik 6: Peter Strauch „Du Kind in dieser heilgen Zeit“ (CD Jochen Klepper und seine Zeitgenossen: “Ja, ich will euch tragen”, Das Solistenensemble, Leitung Gerhard Schnitter)
Jetzt fehlt nur noch mein zu Beginn versprochener Johann-Sebastian-Bach. Er beendet sein Weihnachtsoratorium wieder mit der „Oh Haupt voll Blut und Wunden-Melodie“, die er in der Matthäuspassion durchlaufend wie ein roter Faden acht Mal (!) verwendet hatte und unterlegt ihr nun – ganz passend zu meinem Thema - die höchst österlichen Worte eines damals neuen Weihnachtsliedes (Georg Werner, „Ihr Christen, auserkoren“, 1648): „denn Christus hat zerbrochen, … Tod, Teufel, Sünd und Hölle!“ Wir hören es gleich.
Mich bestärkt es darin: Alles Christliche ist immer irgendwie Ostern! Es gibt keinen Sonntag, kein Fest und keinen Feiertag, der nicht im Tiefsten ein Osterfest wäre: Jesus kommt immer wieder in die Welt, um die Macht des Todes durch die Kraft der Liebe zu besiegen, eben auch an Weihnachten.
Musik 7: Johann-Sebastian Bach “Nun seid ihr wohlgerochen” (CD Weihnachtsoratorium, Schlusschor, Ton Koopmann & Amsterda, Baroque Orchestra)