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Die Liebe zum Lebendigen: Biophilia
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Die Liebe zum Lebendigen: Biophilia

Anke Jarzina
Ein Beitrag von Anke Jarzina, Katholische Pastoralreferentin in der Pfarrei St. Peter und Paul in Wiesbaden
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Ich liebe es, draußen unterwegs zu sein! Und das, solange ich denken kann: Als Kinder wurden wir noch jeden Tag „rausgescheucht“, zum Spielen oder Spazierengehen, egal bei welchem Wetter. Als Teenie behielt ich mir das sogar freiwillig bei: Oft bin ich nachmittags nach der Schule und den Hausaufgaben nochmal mit dem Fahrrad raus, einmal ums Dorf und um die Felder. Ich brauchte diese Zeit draußen, in der Natur, war gerne allein mit mir und der stillen Landschaft. Allerdings: Seit wir Kinder haben, kann ich mir diese Zeit nicht einfach immer so nehmen, wie ich sie brauche. In den letzten Jahren habe ich mir viel zu wenig freie Zeit gegönnt und viel zu viel „funktioniert“, beruflich und privat. Das war wahrscheinlich auch einer der Gründe für einen Hörsturz im letzten Jahr. Die Folgen: ein chronischer Tinnitus, eine bleibende Hörminderung und Depressionen. Den Großteil des letzten Jahres war ich arbeitsunfähig. Aber: Gerade in dieser Zeit hab ich das Draußensein und die Natur wieder für mich entdeckt. Ich hatte auf einmal wieder Zeit und konnte tun, was ich wirklich brauchte. In mir war durch den Hörsturz so viel in Bewegung gekommen, dass ich mich auch äußerlich bewegen musste, durchatmen, draußen sein.

Ich bin verbunden mit allem, was lebt

Also hab ich oft meinen Rucksack gepackt und mich einfach aufgemacht, manchmal auf eine geplante Tour, manchmal aber auch einfach so ins Blaue, querfeldein. Das Laufen, das In-der-Natur sein, die Bewegung und vor allem die Geräusche im Wald waren Medizin für mich. Der Tinnitus spielte plötzlich keine so große Rolle mehr, die Bewegung an der frischen Luft bei Wind und Wetter tat mir gut, körperlich und seelisch. Manchmal hab ich dabei etwas gefühlt, das ich als Verbundenheit bezeichnen würde. Ich habe gemerkt: Alles ist verbunden. Ich bin nicht nur ein Individuum, das verletzlich ist, krank werden kann, Ängste und Sorgen hat. Ich bin auch Teil dieser wunderbaren, großartigen und unendlichen Schöpfung. Ich bin verbunden mit allem, was lebt. Mit mir selbst, mit allen Menschen und Lebewesen – und mit Gott. Diese Verbundenheit zu spüren tat mir unglaublich gut - trotz Tinnitus, Zukunftssorgen und Weltkrisen.

Ich war verblüfft, am eigenen Leib zu spüren: Natur heilt

Draußen-Sein, vor allem im Wald, ist förderlich für die Gesundheit, antidepressiv und wirkt sogar krebsvorbeugend. Das haben Wissenschaftler inzwischen mehrfach belegen können[1]. Sie sprechen in diesem Zusammenhang vom Biophilia-Effekt. Biophilia kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „Liebe zum Lebendigen“ – und diese Liebe wirkt sich auf den Menschen wohltuend aus. Theoretisch finde ich das nicht überraschend – aber ich muss sagen: Ich war verblüfft, am eigenen Leib zu spüren: Natur heilt. Auch wenn sie es anders tut, als ich dachte. Anfangs habe ich noch gehofft, dass mein Tinnitus verschwindet, wenn ich nur oft genug in den Wald gehe. Das ist leider nicht passiert. Aber: Inzwischen kann ich viel gelassener und positiver mit diesem Ohrgeräusch umgehen. Ich empfinde meine Erkrankung nicht mehr als Bedrohung, sondern viel mehr als einen Leib- und Seelewächter, der mich warnt, wenn ich mir mal wieder zu viel zugemutet habe. Das funktioniert sehr zuverlässig – und dafür bin ich dankbar.

Frische Luft einatmen und die Kraft der Natur aufnehmen

Seitdem nimmt die „Liebe zum Lebendigen“ eine noch größere Rolle in meinem Leben ein, sowohl privat als auch beruflich. Ich achte darauf, oft draußen zu sein, durchzuatmen und die Natur als meine Kraftquelle „anzuzapfen“, mich ganz bewusst mit ihr zu verbinden. Das gelingt mir beim Spazierengehen, Wandern und beim Fahrradfahren, alleine oder mit anderen. Manchmal genügt es auch schon, wenn ich das Fenster zum Lüften öffne, für Momente in den Garten schaue und die frische Luft tief einatme.

Hinweise in der Natur helfen mir, mir selbst auf die Spur zu kommen

Außerdem konnte ich als Pastoralreferentin in meiner Pfarrei eine neue Aufgabe umsetzen: das Angebot einer „Outdoor-Seelsorge“[2]. Ich gehe mit Menschen raus, spazieren, wandern, pilgern. Dabei gehen wir im Gespräch in der Natur auf die Suche: nach den Fragen, die gerade für diese Menschen wichtig sind, nach den Sehnsüchten, die dahinter stecken – und nach den Antworten, die vielleicht schon in ihnen zu wachsen anfangen. Die Natur hilft dabei. Zum Beispiel kann eine Feder auf dem Weg ein Symbol dafür sein, dass ich die Dinge leichter nehmen könnte. Oder die Rinde eines Baums kann für eine Schutzschicht stehen, die sich um meine Seele gelegt hat und dort auch ihre Berechtigung hat. Und so weiter – die Natur ist voller Dinge und Zeichen, die ich auf mich und mein Leben übertragen und so mir selbst auf die Spur kommen kann.

Viele Religionen entdecken in der Natur die tiefere Wahrheit des Lebens

Über die Natur die tiefere Wahrheit des Lebens entdecken ist eine uralte Tradition in allen Kulturen und Religionen. Auch Jesus hat sich in seinen Erzählungen oft auf die Natur bezogen, wenn er den Leuten erzählen wollte: So ist das Reich Gottes. Zum Beispiel vergleicht er das Himmelreich mit einem Senfkorn, das erst ganz klein ist, dann aber zu einem riesigen Baum heranwächst, „zu dem die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten“ können (Matthäusevangelium, Kapitel 13, Vers 31). Nicht nur deshalb glaube ich: Die Biophilia, die Liebe zum Lebendigen, ist eine zutiefst jesuanische, eine christliche Grundhaltung.

Wir sind alle mit allem verbunden

Gott, so erzählt es die Bibel, ist der Schöpfer von allem Lebendigen. Wenn ich das glauben kann, führt das zu der „Überzeugung, dass sämtliche Geschöpfe des Universums, da sie von ein und demselben Vater erschaffen wurden, durch unsichtbare Bande verbunden sind und wir alle miteinander eine Art universale Familie bilden, eine sublime Gemeinschaft.“[3] So formuliert es Papst Franziskus in seiner Schöpfungs-Enzyklika „Laudato si“. Wir sind alle mit allen und allem verbunden.

Wer sich verbunden fühlt, geht anders mit Natur und Mitmenschen um

Das klingt ja gut und schön – aber spielt das in meinem Alltag eine Rolle? Ja! Denn wenn ich mich allem Lebendigen verbunden fühle, fühle ich mich auch verantwortlich. Dann werfe ich meinen Müll nicht achtlos in die Gegend. Dann ist es mir auch nicht egal, ob irgendwo auf der Welt Menschen für Hungerlöhne und unter prekären Arbeitsbedingungen meine Kleidung herstellen, die ich dann billigst kaufen kann. Wenn ich fühle, dass ich mit allem verbunden bin, wenn ich die „Liebe zum Lebendigen“ spüre, dann gehe ich anders mit der Welt und den Menschen um, nämlich: respektvoll, fürsorglich, achtsam.

Das Spüren dieser Verbundenheit kann helfen, Krisen zu lösen

Ich glaube: Es tut unserer Welt und uns nicht nur gut, wenn immer mehr Menschen diese Verbundenheit spüren und erleben – ich glaube: Es ist gerade angesichts der vielen Krisen not-wendig. Deshalb steht das neue Jahr für mich unter der Überschrift: Liebe zum Lebendigen. Ich will mir die Biophilia-Brille aufsetzen und noch bewusster erleben, wie ich mit allem verbunden bin, was lebendig ist.

Draußen-Sein in der Natur als Gottesdienst erleben

Bei mir funktioniert das am besten, wenn ich draußen bin, in der Natur. Oft kann ich dort eine Art innere Unterhaltung führen mit dem, der mich und alles um mich herum geschaffen hat, mit Gott. Man könnte auch sagen: Ich bete. Manchmal gelingt es mir auch, in der Natur wie einer Bibel zu lesen und heilsame Botschaften für mich und mein Leben zu entdecken. Man könnte sagen: Das Draußen-Sein ist für mich auch eine Form von Gottesdienst geworden, in dem ich die Liebe zum Lebendigen spüren, Verbundenheit erfahren und Gott dafür danken kann, dass er alles so wunderbar geschaffen hat. Solche Gottesdienste mit „Biophilia-Effekt“, die möchte ich im neuen Jahr viele feiern – nicht nur alleine, sondern mit anderen zusammen, die ähnlich ticken. Ich glaube: Dann wird dieses Jahr 2023 ein gesegnetes, glückliches und sehr lebendiges Jahr werden.

 


[1] Vgl. Clemens G. Arvay: Der Biophilia-Effekt. Heilung aus dem Wald.

[2] Nähere Infos unter www.lebensmark.de

[3] Papst Franziskus: Enzyklika „Laudato si“ (2015), Nr. 89.

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