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Vom Eigenlob und der gesunden Selbsteinschätzung
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Vom Eigenlob und der gesunden Selbsteinschätzung

Martina Patenge
Ein Beitrag von Martina Patenge, Katholische Referentin für Glaubensvertiefung und Spiritualität, Kardinal-Volk-Haus Bingen
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„Eigenlob stinkt“ wurde früheren Generationen eingebläut. Und sobald jemand etwas Gutes über sich selbst sagte, konnte die Person sicher sein: irgendjemand sagt dann sofort „Eigenlob stinkt“. Sich selbst oder eine Eigenschaft von sich irgendwie gut zu finden – das ging unter kultivierten Menschen gar nicht. Und das wirkt bis heute. Vielen fällt ohnehin eher all das ein, was sie nicht sind und nicht können – das alles zählen sie viel leichter und schneller auf als das, was sie wirklich gut können. Und was sie an sich gut finden! 

Genau das ist beabsichtigt

Durch social media hat sich allerdings heute einiges geändert. Eigenlob ist da plötzlich doch sehr erwünscht und ganz normal. Der eigene Körper, kleine oder große Talente und Fähigkeiten werden ungeniert ausgestellt. Wer sich auf social media präsentiert, möchte ja gesehen werden – und wird vielleicht bewundert, vor allem aber beurteilt und bewertet. Und genau das ist beabsichtigt.

Das Gegenteil ist genauso unangenehm

Selbstanpreisung auf social media ist also völlig selbstverständlich geworden. Ich bin hin und hergerissen, wie ich das finden soll. Manchmal ist es mir sehr unangenehm, wenn jemand ständig nur seine eigenen Vorzüge preist und so recht von sich allein überzeugt ist. Aber das Gegenteil finde ich genauso unangenehm: wenn das eigene Licht ständig unter den Scheffel gestellt und kleingeredet wird. Denn weder das eine noch das andere entspricht der Wirklichkeit. Niemand ist nur grandios. Niemand ist nur schwach und unbegabt.

Es ist ein langer Weg

Es scheint auf das richtige Maß anzukommen. Auf die richtige Mischung. Ich glaube, wir Menschen brauchen beides: den Stolz auf das, was wir können, und das Wissen um all das, was wir nicht gut können.  Der Weg zu einem einigermaßen ausgeglichenen Selbstbewusstsein ist ein langer Weg. 

Musik 1:Francesco Antonio Bonporti (1672-1749): Giga-Allegro aus: Invenzione prima A (CD:  Bonporti, Invenzioni; Chiara Banchini, Gaetano Nasillo, Jesper Christensen CD 1 [3] (2:46)). 

„Das hast du sehr schön gemacht“

Eine Balance herstellen zwischen Eigenlob und Eigenkritik ist wichtig – und der Weg dorthin kann lang sein. Eigentlich beginnt er bereits bei den Kleinkindern. So ungefähr ab dem zweiten Lebensjahr entdecken sie sich und die Welt um sich herum. Sie fangen an, wahrzunehmen, was sie alles schon können, und wollen von sich aus ja immer weiter lernen: mit dem Löffel essen, Türen auf- und zumachen, sich selbst die Hose anziehen. Voller Stolz zeigen sie es, und brauchen es dringend, dass die Großen sagen und es auch so meinen: „Das hast du sehr schön gemacht!“ Denn so wächst in einem Kind der Boden für ein gutes Selbstwertgefühl.

Begrenzungen erleben sie früh genug

Dafür brauchen sie viel Lob. Die düsteren Zeiten sind hoffentlich vorbei, in denen stolz verkündet wurde: „Nicht geschimpft ist genug gelobt!“ Das waren schlimme Fehlentwicklungen, die vielen Menschen sehr geschadet haben und weiter schaden. Nein, Loben verzärtelt Kinder überhaupt nicht, sondern stärkt ihr Bewusstsein für sich selbst. Begrenzungen erleben sie früh genug, und später müssen sie auch lernen, Kritik einzustecken und Fehler einzugestehen. 

Es geht um das richtige Maß

Insofern dürfen wir Erwachsenen uns gerne an den Kindern orientieren. Natürlich mit der erwachsenen Distanz. Wir sind nun mal nicht mehr zwei Jahre alt. Auch wir dürfen wohlwollend auf das schauen, was uns gelungen ist oder was wir gut können. Oder was wir geworden sind. Und darüber dürfen wir uns sehr freuen. Es geht um das richtige Maß. Ein Erwachsener sollte dabei nie den kritischen Blick verlieren: Stimmt das, wenn ich das so sage? Dieser Blick gilt aber für alle Seiten. Auch für die abwertenden Blicke auf sich selbst. Auch da muss die Frage heißen: Stimmt das denn wirklich? 

Es scheint also gar nicht so einfach zu sein mit dem Selbstlob. Und dann haut auch noch Jesus in diese Kerbe. So erzählt es die Bibel im Evangelium nach Lukas:

In jener Zeit erzählte Jesus einigen,
die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, dieses Gleichnis:

Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten;

der eine war ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
Der Pharisäer stellte sich hin und sprach bei sich dieses Gebet:
Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin,
die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort.
Ich faste zweimal in der Woche und gebe den zehnten Teil meines ganzen Einkommens.
Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig!“
(Lukas 18, 9 – 14)

Musik 2:Heinrich Schütz (1585-1672): Es gingen zweene Menschen hinauf SWV 444 (CD: Dresdner Kammerchor, Hans-Christoph Rademann [15] (3:28)).

Der ist ja furchtbar peinlich

Es ist ein heftiger Gegensatz, den Jesus in seinem Gleichnis da wählt: zwischen dem selbstgerechten Pharisäer und dem demütigen Zöllner. Aber: Übertreibungen prägen sich einfach besser ein. Jesus kann sich sicher sein: Damit kommt die Botschaft an. Niemand wird diesen Pharisäer sympathisch finden! Der ist ja furchtbar peinlich. Um sich selbst in eine gute Position zu bringen, setzt er den anderen herab. „Ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin…“ Das ist schon sehr heftig. Einen anderen schlechtmachen, um selbst gut dazustehen... So ein gefühlloser Kerl. Mit dem möchte ich nichts zu tun haben. Und bei ihm stimmt die Aussage: Eigenlob stinkt.

Da bin ich doch ganz anders...

Und erstmal atme ich auf. Nein, so bin ich zum Glück nicht. Das würde mir ja nie einfallen.

Aber – bei genauerem Nachsinnen schleicht sich ganz vorsichtig eine Frage an: Denke ich da nicht ganz ähnlich wie dieser Pharisäer? Habe ich auch so was Pharisäisches in mir? Schließlich vergleicht sich jeder mal mit anderen. Das passiert ja fast nebenbei und ganz automatisch. Wer hat nicht schon gedacht: Wie gut, dass ich nicht so bin wie dieser Nachbar, der mit dem SUV herumfährt, oder diese Kollegin, die ständig über andere herzieht. Da bin ich doch so ganz anders.  

Etwas von Unerbittlichkeit und Selbstgewissheit

Und dann gibt es die Konflikte, die daraus entstehen, dass die eine Seite sich im Besitz der Wahrheit glaubt – und der anderen genau das abspricht. Das kann derzeit in den Richtungskämpfen der katholischen Kirche gut beobachtet werden. Manche Auseinandersetzungen im so genannten „Synodalen Weg“ der katholischen Kirche haben etwas von einer Unerbittlichkeit und Selbstgewissheit an sich, die erschreckend ist.

Es ist der Stil der Auseinandersetzung

Wobei ein Missverständnis gar nicht erst entstehen soll: Es geht nicht ums mühsame Streiten an sich. Ich finde es völlig in Ordnung, dass um verschiedene Positionen gerungen wird. Es ist auch keine Katastrophe, dass die Bischöfe sich untereinander nicht in allem einig sind. Ich halte verschiedene Meinungen für normal, solange sie nicht den Kern des Glaubens betreffen. Offensichtlich hat aber viel zu lange eine gute Streitkultur gefehlt. Es soll eben nicht so sein, dass die eine Seite sich im Besitz der Wahrheit glaubt und die andere deshalb schweigen soll. Nicht die unterschiedlichen Meinungen sind das gravierende Problem, sondern der Stil der Auseinandersetzung.

Musik 3: Christoph Demantius (1567-1643): Denn wer sich selbst erhöhet (CD: KammerChor Saarbrücken, Georg Grün [3] (2:43)).

Das ist die Sinnspitze des Gleichnisses

Der selbstgerechte Pharisäer und der demütige Zöllner aus der Bibel – sie stellen sich auch unterschiedlich vor Gott hin. Jesus erzählt dieses Gleichnis einigen, „die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten“. Von der eigenen Gerechtigkeit überzeugt sein ist ganz und gar nicht gut - das ist die Sinnspitze des Gleichnisses. Die Frommen sollen sich nicht zu sicher fühlen vor ihrem Gott, wollte Jesus klarmachen. Sie liegen falsch, wenn sie denken: Ha, ich kann durch mein vorbildliches Verhalten Gott bestimmt beeindrucken. 

Selbstgerechtigkeit immer ein Problem

Unsere heutigen Fragen sind zwar etwas anders. Aber Selbstgerechtigkeit ist wohl immer ein Problem und eine Gefahr. Ich merke es ja gar nicht, dass ich in einer Situation vielleicht sehr selbstgerecht bin. Ich glaube ja, dass ich korrekt handle und alles richtig weiß. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich meine Sache gut mache. Und es ist verständlich, dass viele Menschen gerne bei Gott auch „auf der sicheren Seite wären“. 

Demut und Bescheidenheit

Aber welche Lösung empfiehlt Jesus? Jesus empfiehlt nicht ein „noch mehr“, noch mehr Askese und noch mehr Spenden und noch mehr Anstrengung, sondern er empfiehlt Demut und Bescheidenheit. In seinem Gleichnis zeichnet er den Zöllner als sehr demütigen Beter. „Der Zöllner aber blieb ganz hinten stehen und wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben, sondern schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Lk 18,13) 

Sie galten als Beutelschneider

Ein Zöllner als gutes Vorbild! Das ist schon überraschend. Denn Zöllner waren damals nicht gerade als demütige Menschen bekannt. Sie hatten einen schlechten Ruf. Sie galten als Beutelschneider. Man warf ihnen sicher nicht zu Unrecht vor, dass sie jede Möglichkeit ausnutzen, anderen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Und ausgerechnet also so ein geldgieriger, vielleicht sogar betrügerischer Mensch wird hier als Vorbild dargestellt?

Was kommt denn jetzt?

Da muss man erst mal draufkommen. Das ist typisch für Jesus. Seine Gleichnisse sind ja oft so überraschend, weil sie die üblichen Verhältnisse auf den Kopf stellen. Aber da werden alle Zuhörer und Zuhörerinnen aufmerksam und wach und fragen sich: Was kommt denn jetzt? Was will er uns jetzt wieder zeigen?

Seine Schuld ist ihm vergeben

Was ist also das Besondere an diesem Zöllner? Er bleibt im Tempel ganz hinten stehen und traut sich nicht nach vorne. Er hebt nicht den Kopf, und macht nicht viele Worte. Sein Gebet ist kurz: Gott, sei mir Sünder gnädig! Das ist alles. Er versucht keine Ausreden, keine Rechtfertigungen, keine langen Erklärungen. Er bringt nur das raus: ich brauche Gnade!

Und, so sagt es Jesus: dieser Mensch geht nach Hause, und seine Schuld ist ihm vergeben. 

Gnade...ein vergiftetes Wort

Mit der Gnade ist es ja so eine Sache. Gnade ist für viele ein vergiftetes Wort. Gnade wurde oft verstanden als „von oben herab“, willkürlich, herablassend. Der „gnädige Herr“ konnte seine Angestellten behandeln, wie er wollte, mal streng, mal gnädig. Ich setze im Alltag eher auf Recht und Gerechtigkeit, die für alle gleich gelten. Und wünsche mir keine „gnädigen“ Verhaltensweisen nach Gutsherrenart von oben herab.

Es geht um ein Geschenk

Bei diesem doch eher problematischen Vorverständnis hat es der Begriff „Gnade“ auch im Religiösen ganz schön schwer. Da hilft die Herkunft des Wortes aus dem Lateinischen. Dort heißt Gnade „gratia“. Das finden wir in unserem Wort „gratis“ wieder: „umsonst, einfach geschenkt“. Nichts von Willkür und Zufall. Es geht um ein Geschenk. Und um Gottes Großzügigkeit. Wenn also der Zöllner betet: „Sei mir Sünder gnädig“, dann meint er: „Ich habe Dir, Gott, nichts anzubieten. Kein Fasten und keine großen Spenden, und auch sonst nichts Tugendhaftes. Ich stehe hier mit leeren Händen. Aber ich vertraue darauf, dass Du mir Deine Liebe schenkst. Deshalb bin ich zu dir gekommen.“

Musik 4: Johann Sebastian Bach (1685-1750): Gratias agimus tibi aus: h-moll-Messe (CD: Gächinger Kantorei, Freiburger Barockorchester, Hans-Christoph Rademann CD 1 [7] (2:11)).

Mit Gott keine Geschäfte machen

Jesus möchte seinen Zuhörerinnen und Zuhörern erklären: Ihr sollt mit Gott keine Geschäfte machen. Ihr sollt Gott nicht bestechen wollen durch Wohlverhalten, Spenden und Fasten. Damit überzeugt ihr Gott nicht. Gott will nicht milde gestimmt werden durch besondere Verhaltensweisen. Sondern Gott will Euer Vertrauen! 

Fasten eine wichtige Schule des Willens

Um es gleich richtigzustellen: Spenden und Fasten und ein verantwortliches Leben sind nicht überflüssig. Fasten ist eine wichtige Schule des Willens, um nicht gänzlich Sklave des eigenen Leibs zu sein. Meine Spenden brauchen andere, damit sie leben können. Das wird besonders am heutigen Weltmissionssonntag deutlich. Denn viele leben in Armut und ohne Bildung und brauchen dringend Unterstützung auch von mir und anderen.

Ein sorgsamer Umgang mit der Natur 

Eine anständige Lebensführung ist eine Frage der Menschlichkeit und Vernunft. Gefragt ist auch ein sorgsamer Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen, auch Verzicht auf Luxus, der anderen schadet. Dies und anderes sind eigentlich Selbstverständlichkeiten, und jede und jeder finde heraus, was für das eigene Leben angemessen ist. 

Das funktioniert so nicht

Überflüssig sind diese Tugenden also nicht. Ganz im Gegenteil. Wie wir leben – das hat Auswirkungen. Aber es eignet sich nicht zum Geschäft mit Gott – ich soll nicht fasten, damit Gott mich besonders liebt. Ich soll nicht spenden, damit ich vor Gott besser dastehe. Das funktioniert so nicht. Sondern eher andersherum: Weil Gott mich liebt, antworte ich darauf, indem ich mein Leben verantwortlich gestalte. Damit bekommen dann meine Verhaltensweisen eine ganz andere Bedeutung. Diese Gedanken verbindet Jesus mit der Erzählung vom Pharisäer und vom Zöllner. Und er endet sein Gleichnis mit den Worten:

… wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt,
wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.  (Lk 18, 15)

Es entsteht eine innere Festigkeit

Und da sind wir noch einmal bei der Frage nach dem Selbstwertgefühl. Am stärksten wird das Selbstwertgefühl doch dort, wo ein Mensch spürt oder ahnt: Gott liebt mich. Was kann es schließlich Größeres geben? Es kommt nicht auf Leistung an oder auf große Verdienste. Sondern auf Gottvertrauen, die Gott einen Platz im Herzen einräumt. Dadurch entsteht eine innere Festigkeit.

Es geht um die realistische Selbsteinschätzung

Die beiden letzten Sätze des Gleichnisses finde ich gar nicht so einfach. Sich selbst erhöhen – ja, das ist vor Gott und mit Gott keine gute Idee. Aber sich selbst erniedrigen? Da ist wieder die Gefahr des Missverstehens, nichts an sich selbst gut finden zu dürfen. Aber genau darum geht es nicht. Sondern es geht um die realistische Selbsteinschätzung. Man könnte sie auch als gesunde Demut bezeichnen.

Jeden so nehmen, wie er ist

Mit Gott ist kein Geschäft zu machen, indem ich ihm Leistungen anbiete. Er braucht nicht, dass ich mich vor ihm groß aufspiele oder im Gegenteil so tue, als ducke ich mich und mache mich kleiner, als ich bin. Sondern er nimmt jeden so, wie er ist. So klein, so groß, so hilflos, so fehlerhaft, so begabt, so fragend…und hilft uns, immer mehr bessere Menschen zu werden. Und das ist großartig!

Musik 5: Johann Ludwig Bach (1677-1731): Gott sei uns gnädig (CD: Motetten, Rheinische Kantorei, Hermann Max [5] (max. 5:29)).

(Musikauswahl: Regionalkantorin Mechthild Bitsch-Molitor, Mainz)

 

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