…und wir glaubten, wir hätten noch so viel Zeit!
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…und wir glaubten, wir hätten noch so viel Zeit!

Winfried Engel
Ein Beitrag von Winfried Engel, Katholischer Ltd. Schulamtsdirektor i. K. i. R., Fulda

„ … und wir glaubten, wir hätten noch so viel Zeit!“ So las ich über der Todesanzeige eines mit 69 Jahren verstorbenen Mannes. Ich kannte den Verstorbenen. Hin und wieder waren wir uns begegnet, hatten ein paar freundliche Worte gewechselt. Sein Tod kam plötzlich und unerwartet, und seine Familie brachte das zum Ausdruck, was wahrscheinlich viele Menschen in einer solchen Situation denken. „Wir glaubten, wir hätten noch so viel Zeit!“ Ja, gemessen an dem Alter, das heute viele Menschen erreichen, haben sie wohl Recht. Doch beim Sterben gibt es keine Reihenfolge, hat mal jemand gesagt. Nicht zuerst die Alten und dann die Jungen, wie man glauben könnte. Nein, es geht durcheinander, Junge vor Alten, vermeintlich Gesunde vor Totkranken. Gewiss ist einzig und allein die Tatsache, dass jeder sterben wird. Doch wann und unter welchen Umständen, das wissen wir – ich meine, Gott sei Dank – nicht.
Und was lerne ich daraus? „Carpe diem“, genieße den Tag – so könnte die Antwort lauten. Diese Redeweise stammt aus dem 1. Jahrhundert vor Christus und geht auf den römischen Dichter Horaz zurück. Sie erinnert daran, dass die Lebenszeit kurz ist und man nichts verschieben sollte. Man weiß ja nicht, was kommt. Mit gedankenlosem Genießen hat das nichts zu tun. Eher mit dankbarer Annahme der Zeit, die mir geschenkt ist. Jeder neue Tag gehört dazu. Ihn als Geschenk anzunehmen bedeutet, dass ich ihn gestalte, dass ich mir für die Menschen in meiner Nähe Zeit nehme, dass ich Wichtiges nicht auf morgen verschiebe. Der Verlust eines lieben Menschen macht mir schlagartig klar, dass auch meine Zeit begrenzt ist. Umso mehr schätze ich die Zeit, die mir noch geschenkt ist, genieße Stunden der Gemeinsamkeit, setze vielleicht auch Prioritäten. Dann würde ich am Ende vielleicht immer noch sagen: „Ich glaubte, ich hätte noch so viel Zeit!“ Zugleich könnte ich aber auch dankbar sein, die mir geschenkte Zeit nicht vertan zu haben!         

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