"Tanzen - Medizin für Körper und Geist"
„Wollen wir tanzen?“ – Mit dieser Frage kam vor einem Jahr eine Freundin auf mich zu. Und als ich nachfragte „Wie meinst Du das denn?“, da machte sie einen Vorschlag: „Komm, lass uns zusammen einen Tanzkurs machen! Ich hätte mal wieder richtig Lust aufs Tanzen“.
Ob die gute Freundin wohl wusste, dass das Tanzen bei mir schon eine lange Geschichte hat? Schon als Kind drehte ich mich mit meiner gleichaltrigen Nachbarin im Tanz. Ihre Mutter war es damals, die uns den Walzerschritt beigebracht hat. Und auf dem glatten Boden in der Küche tanzten wir dann, bis uns ganz schwindelig wurde.
„Wollen wir tanzen?“ Die Frage der Freundin kam mir sehr entgegen. Und mit viel Freude haben wir dann im vergangenen Winter gemeinsam einen Tanzkurs besucht. Und in wenigen Tagen geht es dann weiter mit Teil Zwei. Ich freue mich schon drauf.
„Wollen wir tanzen?“ So haben wir uns vor kurzem auch in unserer Kirchengemeinde gefragt. Geplant wurde ein Tanzfestival in der Kirche. Und im Rahmen des Festivals sollte auch im Gottesdienst getanzt werden. Und so ist es dann auch gekommen. Und alle Gottesdienstbesucher hatten große Freude daran.
Tanzen in der Kirche – über Jahrhunderte hin war das ganz undenkbar. Singen und Musikhören: ja. Kunstwerke errichten und Bilder anschauen: auch das gehörte in der Kirche dazu. Aber Tanzen? Tanzen nein. Diese Kunst blieb ausgespart.
Aber ich finde, es ist längst an der Zeit, in der Kirche auch zu tanzen.
Was hat es auf sich mit dem Tanzen? Ich selber habe bei diesem Thema viel von einem Dokumentarfilm gelernt, der vor ein paar Jahren in unseren Kinos lief. Der Film handelt vom Tanzen. Sein englischer Titel lautet: Rhythm is it: Es ist der Rhythmus, der es macht. Als DVD ist der Film noch immer zu haben.
Erzählt wird da von einem einmaligen Projekt in Berlin: Schülerinnen und Schüler aus Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien sollen gemeinsam an einer Ballettaufführung mitwirken, und die Berliner Philharmoniker werden dabei die Musik machen.
Viel Interessantes, ja Anrührendes ist in diesem Film zu sehen: Jugendliche, die in ihrem Leben noch nie in einem klassischen Konzert oder in einer Ballettaufführung gewesen sind. Am Ende aber heben sie einen wahren Schatz. Gezeigt wird, wie diese so verschiedenen jungen Leute Disziplin lernen. Mit viel Geduld und mit sehr viel Anstrengung entdecken sie, was ihnen bislang verborgen war: Die Freude am kreativen Selbstausdruck, die Freude an der differenzierten Bewegung, die Freude an der hoch-komplexen Musik.
Unter den Jugendlichen, die uns der Film vorstellt, ist einer dabei, für den das allerdings kein so großes Problem gewesen zu sein scheint.
Die Kamera zeigt uns einen jungen Mann aus Nigeria in seiner kleinen Berliner Wohnung. Flüchtling ist er. Geflohen vor den Mördern, die tatsächlich seine ganze Familie umgebracht haben. Vater, Mutter und Geschwister. Nur er alleine ist übrig geblie-ben.
Und nun zeigt uns die Kamera ihn und einen afrikanischen Freund, der gerade zu Besuch gekommen ist: die beiden tanzen in dem kleinen Zimmerchen im Wohnheim und freuen sich an der Bewegung. Und ihre Gesichter strahlen und leuchten.
Kaum vorstellbar für uns, was der Junge erlebt hat. So früh alles verloren. Und dann tanzt er. Wie kommt er dazu? Vielleicht hat er das zuhause erlebt, als die Familie noch zusammen war, der ganze Clan. Wenn gefeiert wurde. Oder auch wenn etwas Schweres zu verkraften war. Wie man sich gewissermaßen durchs Tanzen wieder hochschraubt. Zur Freude und zur Lust am Leben. Wie Not und Verletzungen weichen müssen – oder sollte ich vielleicht besser sagen: wie Not und Trauer und Verletzung umgewandelt werden im Tanz, in der Bewegung. Wie jemand bei Tanzen etwas unter die Füße bekommt.
„Du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen“ – dieses Wort aus Psalm 30 fällt mir dazu ein.
Und genau das heißt für mich Kultur: dass da Erkenntnisse und dass da Lebensweisen wie Tanzen und Singen, wie Malen und Dichten entwickelt und weitergegeben werden. Erkenntnisse und Lebensweisen, die unser Leben in seinen Tiefen ausloten, die unser Leben tiefer gründen und zugleich unser Leben steigern. Und im Tanz kann das geschehen.
Merkwürdig aber ist, was dieser junge Nigerianer zum Leben in Deutschland sagt: zum einen sagt er: es ist gut hier zu sein. Denn in Deutschland könnte man zur Schule gehen. Und er freue sich, jeden Tag etwas Neues lernen zu dürfen.
Zum anderen aber meint er: Kultur, so etwas wie das von den Vorfahren ererbte Tanzen, Kultur in diesem Sinn hätte er in Deutschland noch nicht entdeckt.
Tanzen im Gottesdienst – das ist bei uns immer noch die große Ausnahme. Dabei ist doch der Tanz – wie uns der junge Nigerianer im Film deutlich vor Augen geführt hat, doch eine der elementarsten Ausdrucksformen des Menschen überhaupt.
Der ganze Körper, ja der ganze Mensch von den Zehenspitzen bis in die Haarspitzen hinein wird im Tanz zum Instrument der Lebendigkeit. Der ganze Körper wird zum Ausdrucksmedium von Gefühlen. Zum Spiegel von Freude und Trauer. Zum Medium für Sehnsucht und Erfüllung. Im Tanzen wächst der Mensch aus sich heraus – und in manchen Momenten wohl auch über sich hinaus.
Körper und Körperlichkeit, Leib und Leiblichkeit: genau hier liegt der Punkt, weshalb die abendländische Kirche dem Tanzen keinen Zugang gestattete in ihre heiligen Räume. Ja, am liebsten hätte es so mancher Kirchenmann in den 2000 Jahren Kirchengeschichte gesehen, wenn das Tanzen überhaupt verboten worden wäre. Denn zwischen Körper und Geist, zwischen Leib und Seele zog man einen radikalen Trennungsstrich.
Worum es in der Kirche gehen sollte, das war das Heil der Seele, und der Körper war da – ganz den Anschauungen des großen griechischen Philosophen Platon gemäß – nur ein Hindernis.
Im Körper mit seinen Leidenschaften und Bedürfnissen erkannte man oft nur eine Fessel für die Seele. Der Körper, so meinte man, war der Ort, wo die vielfachen Versuchungen der großen und der kleinen Teufel leichtes Spiel hatten.
Gottseidank aber hat sich diese Ansicht, dass alles Tanzen Teufelswerk ist, in unserem christlichen Abendland doch nicht ganz und vollständig durchsetzen können.
Interessanterweise war es der Tod, der gewissermaßen als erster in der Kirche tanzen durfte.
Seit den verheerenden mittelalterlichen Pestzeiten wurde der Sensenmann auf großen Wandbildern dargestellt, als Knochengerüst und tanzend. Tanzend und musizierend mit Flöten, Trommeln und anderen Instrumenten. Man sieht ihn da abgebildet wie den Rattenfänger von Hameln: wie er tanzend alle mit sich zieht: Papst, Kaiser und Edelmann, Bauer, Knecht und Kind. Hinter dem tanzenden Knochenmann sind plötzlich alle gleich.
Und so makaber das aussieht für uns, war es doch für die Men-schen damals zugleich so etwas wie ein kleiner Sieg über die Macht des Todes. Man konnte dem Tod mit Humor begegnen.
Und noch eine andere Botschaft geht von diesen Bildern aus: Nutze dein Leben, tanze, solange du kannst. Denn eines Tages ist es vorbei, ob du jung bist oder alt, schön oder hässlich, ob Kaiser oder Bettelmann.
Tanzen steigert das Lebensgefühl – davon erzählt uns die Bibel immer wieder beeindruckende Geschichten. Und sehr häufig geschieht dieses Tanzen in der Bibel in einer Situation, die sich vielfach gleicht:
Immer wieder geht es da um das Nach-hause-kommen. Um das Nach-hause-kommen nach langer Irrfahrt. Da bricht sich dann die überschäumende Freude Bahn, und es muss einfach getanzt werden.
So tun es die Familie und alle die im Hause wohnen bei der Heimkehr des verlorenen Sohnes. Jesus erzählt, wie einer ausgezogen war, sein Leben in fernen Ländern zu suchen und wie der dann kläglich gescheitert ist. Nun kommt er, der auf dieser Reise sein ganzes Erbe verprasst hat, wieder in sein Va-terhaus zurück.
Aber statt mit einem Vorwurf empfängt ihn sein Vater mit offe-nen Armen. Er lässt das Mastkalb schlachten und gibt ein großes Fest mit Singen und mit Tanzen.
Oder da wird erzählt von dem König David, wie er überschäumend vor Freude (so dass sich manche Leute für ihn schämen!) in ekstatischen Bewegungen vor der sogenannten Bundeslade her tanzt, ein großes Heiligtum im Alten Israel. Nach langer Irrfahrt kommt die Bundeslade endlich wieder nach Hause. In Jerusalem, der heiligen Stadt soll sie jetzt dauerhaft wohnen. David ist außer sich und tanzt.
Und da ist schließlich die große Verheißung an die Verschlepp-ten in Babylon. Getanzt soll werden, wenn die Zeit der Gefan-genschaft vorbei ist und das Babylonische Exil endlich ein Ende hat. Wenn man wieder zurück kehren wird nach Jerusalem, die Heimat der Mütter und Väter, die Stadt des Tempels des Gottes Israels:
Wohlan, du Jungfrau Israel, du sollst dich wieder schmücken, sollst die Pauken schlagen und herausgehen zum Tanz!
So ruft der Prophet Jeremia (Kap. 31) den Exilanten zu.
Alle diese Geschichten von Heimkehr und Tanz handeln jeweils von einem ganz konkreten Nach-Hause kommen. Jedoch: in ihnen allen steckt auch noch ein Mehr, steckt noch ein gewisser Überschuss. Etwas, was die konkrete Geschichte übersteigt.
Sie handeln vom Endlich-Nach-Hause-Kommen an sich. Sie handeln von der Erfüllung einer Sehnsucht, davon, endlich angekommen zu sein.
Alle Klage ist dann verwandelt in einen Reigen, alle Trennung und Verletzung ist dann aufgehoben in einem Heil, das Geist und Körper gleichermaßen umfasst.
Etwas Großes wird uns da versprochen: Es ist das Erleben von Identität und Ganzheit. Es wird die Zeit kommen, so heißt es da, wo wir heil und ganz sein werden. Alles Trennende und Belastende soll dann ein Ende haben.
Nach dieser Ganzheit sehnen wir uns. Und manchmal, in bestimmten Momenten haben wir davon jetzt schon eine Vorahnung. Es sind Momente überschäumender Freude. Und diese Freude will sich mitteilen.
Die Erfahrung von Ganzheit und von Vollständigkeit und von Heilsein: diese höchste Form des Lebens: sie drängt danach, gestaltet und ausgedrückt zu werden. Die Freude kommt zum Vorschein. Die Freude bricht sich Bahn. Sei es im Singen oder Beten, oder sei es im Tanz.
Der junge Mann aus Nigeria hat von alledem viel gewusst. Für ihn war klar: So groß auch immer mein Unglück war: Gott wollte es, dass ich überlebe und dass ich ohne Familie und alleine weiterleben soll. Gott hat mir ein neues Leben geschenkt. Und so habe ich jetzt die Chance, etwas aus meinem Leben zu machen.
Der junge Afrikaner hat auf diese Weise nach Hause gefunden. Ein Zuhause, das nicht Deutschland ist und nicht Berlin. Viel-mehr eine Heimat bei sich und bei Gott.
Das ist der Grund, warum er Tanzen kann und warum sein Ge-sicht so strahlt und leuchtet.
Ich wünsche uns allen, dass auch wir in dieser Weise nach Hause finden. Wenn das geschieht, können wir nicht auf unseren Stühlen sitzen oder im Bett liegen bleiben. Sondern wir werden aufstehen und werden uns in Bewegung setzen. Wir werden zu Tänzerinnen und Tänzern von Gottes Heil.