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Geschwister
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Geschwister

Pia Baumann
Ein Beitrag von Pia Baumann, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Als ich neun Jahre war, ging mein größter Wunsch in Erfüllung. Ich bekam eine Schwester. Jahrelang hatte ich mir gewünscht, kein Einzelkind mehr zu sein. Ich wollte jemanden, der immer da war. Mit dem ich spielen und lachen und toben konnte. Klar, ich hatte Freunde und Freundinnen. Aber mit einem Bruder oder einer Schwester, wäre das viel besser. Dachte ich.

Und dann sagten meine Eltern: Du bekommst ein Geschwisterchen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde. Wie wir zusammen Rollschuh laufen. Und dass ich Schwester oder Bruder zum alten Lieferwagen mitnehmen würde auf dem leeren Grundstück nebenan. Der geheime Treffpunkt für alle Kinder im Dorf.

Schnell stellte sich heraus, dass die Realität nicht viel mit meinen Träumen gemeinsam hatte. Sicher, ich wusste, meine Schwester würde ein Baby sein. Aber so runzelig und hilflos hatte ich sie mir dann doch nicht vorgestellt. Spielen konnte ich anfangs nicht mit ihr. Wie denn auch: Entweder sie schlief, aß oder schrie.

Meinen Eltern mit dem Baby zu helfen, hat mir aber gut gefallen. Ich war die Große. Ich durfte Verantwortung übernehmen. Trotzdem: Meine Schwester war nicht das, was ich mir erträumt hatte. Ich hatte mir eine Freundin gewünscht, aber eine Schwester bekommen. Ich lernte: Freundinnen kann man sich aussuchen. Schwestern nicht. Die muss man nehmen, wie sie sind.

Auch wenn meine Schwester nicht meine beste Freundin war und ist, habe ich doch das große Glück, dass ich sie von Herzen liebe. Sicher, es hat oft zwischen uns gekracht. Es wird auch weiterhin krachen. Als Kinder waren die neun Jahre Altersunterschied sehr groß.Aber je älter wir wurden, desto kleiner wurde der Abstand. Heute spielt er kaum eine Rolle. Es gibt wenige, die mich mit so viel Stolz und Freude erfüllen wie meine Schwester. Aber es gibt auch niemanden, der so präzise um meine Schwächen weiß.Und das auch ausnutzt. Niemand kann mich wie sie mit nur einem einzigen Wort so aus der Fassung bringen. Kein Wunder: Geschwister begleiten uns nicht nur, sie prägen uns für unser ganzes Leben.

Geschwister prägen uns, machen uns zu dem oder der, die wir sind. Sie sind die Menschen, mitdenen wir – aufs gesamte Leben gesehen – die meiste Zeit teilen.Eltern sterben in der Regel vorden Kindern. Freundschaften werden geschlossen und gehen wieder auseinander.Partnerschaften mitunter in die Brüche. Geschwister aber bleiben.

Brüder und Schwestern können Gefährten und Freunde sein. Sie können sich aber auch zu Gegnern und Widersachern entwickeln. Wir verbünden uns mit ihnen gegen die Eltern. Oder konkurrieren gemeinsam um deren Gunst. Und das alles manchmal zeitgleich.

Der Familienforscher Hartmut Kasten ist Experte in solchen Dingen. Er sagt: "Es ist typisch für die Beziehung zwischen Geschwistern, dass negative und positive Gefühle gleichzeitig vorhanden sind. Geschwister“, sagt er, „können Segen sein oder Fluch.“

Ich glaube, es ist gut, sich das vor Augen zu führen. Neben der Verbundenheit auch die dunklen Seiten anzusprechen. Gefühle wie Neid und Rivalität. Dazu gehört Mut. Die Wissenschaft befasst sich noch nicht lange mit der Geschwisterforschung. Diese Beobachtungen sind aber kein Phänomen der Neuzeit. Schon die Bibel berichtet von Geschwistern, die sich mit Liebe und Hass, Zuneigung und Ablehnung begegnen: Kain und Abel,  Jakob und Esau, Maria, Martha und Lazarus. Ich finde: Diese biblischen Erzählungen sprechen immer auch einen Teil unserer eigenen Geschichte aus.

Zum Beispiel Jakob und Esau. Zwillinge. Bei ihnen beginnt Verbundenheit und Rivalität bereits mit der Geburt. Esau wird als Erster geboren. Aber Jakob hält sich an der Ferse des Bruders fest und folgt sofort. Die Jungen sind sehr unterschiedlich. Esau, heißt es, war mehr der robuste Typ. Am ganzen Körper mit rötlichem Haar bedeckt. Stark und wild und mutig. Jakob dagegen war häuslich, gewitzt und charmant. Der Liebling der Mutter. Esau der Stolz des Vaters. Damit hätte es gut sein können. Jeder der beiden hatte seinen Platz im Familiengefüge. Doch es kam zum Konflikt. Denn Esau, der Erstgeborene, sollte den Segen des Vaters erhalten. Und damit das Erbe der Familie. So wollte es die Tradition. Doch für Jakob bedeutete das: Für ihn gab es nichts. Damit fand er sich nicht ab. Jakob kannte seinen großen Bruder Esau. Gut. Sehr gut. Als dieser müde von der Jagd nach Hause kam, hatte Jakob eine Linsensuppe vorbereitet. Esau war hungrig und wollte essen. Gerne bot Jakob ihm von seinem Essen an. Wenn, ja wenn er dafür darauf verzichtete, der Erstgeborene zu sein. Esau muss wirklich sehr hungrig gewesen sein. So hungrig, dass er mehr auf den Magen als auf den Verstand hörte. Er ging auf den Handel ein. Und verkaufte seine Position als Ältester für eine Handvoll Linsen.

Später erschlich Jakob sich mit einer List auch noch den Segen des Vaters. So machte er seinem Bruder Esau das Recht eines Erstgeborenen streitig. Dieser Schwindel trennte die Brüder über Jahre. Und doch ging die Geschichte am Ende gut aus. Aber erstmal musste Jakob fort. Vater und Bruder wollten ihn nicht mehr sehen. In der Fremde musste er hart arbeiten. Er wurde selber so manches Mal betrogen. Aber er verliebte sich auch, heiratete, bekam Kinder und Wohlstand. Nur sein Heimweh blieb. Jakob hatte um seinen Platz im Leben gekämpft und viel gewonnen. Aber der Preis dafür war hoch. Oft fragte er sich, ob der Bruder ihm noch böse war.Im Traum soll Gott zu Jakob gesagt haben: Es ist Zeit. Geh nach Hause. Zu Esau. Hab keine Angst. Ich gehe mit dir.

Es war für Jakob bestimmt nicht leicht, seinem Bruder wieder unter die Augen zu treten. Aber auch Esau hatte sich in den langen Jahren verändert. Er hatte seinen Groll überwunden, sich von der Vergangenheit befreit. Und im Vertrauen auf Gott sein Leben in die Hand genommen. Am Ende liegen sich die Brüder in den Armen. Und können noch einmal neu beginnen.

Es kommt also darauf an, wie jemand damit umgeht, ob er der Erstgeborenen, das Nesthäkchen oder das Sandwichkinder ist.

Die Geschwisterforschung sagt: Jedes Kind hat seine Rolle im Familiengefüge. Es ist ein Unterschied, ob ich die Erstgeborene bin wie Esau oder der Jüngere wie Jakob.

Verkürzt kann man sagen: Erstgeborene sind in der Regel Kümmerer, gehen voran und übernehmen Verantwortung. Sie sind Weltverbesserer und ergreifen Berufe, in denen sie etwas verändern können.

Die Jüngeren dafür sind oft flexibler, offener und unbekümmerter, aber auch rebellischer und risikofreudiger. Es bleibt ihnen auch nicht viel anderes übrig. Denn das ältere Geschwister wird immer auf der Polposition sein.

Zum Teil kann ich das bestätigen. Bis heute ertappe ich mich, dass ich meine kleine Schwester manchmal am liebsten an die Hand nehmen würde. Um sie zu schützen und ihr den Weg zu zeigen. Und meine Schwester hat es geradezu gehasst, an der Schule meinen alten Lehrern zu begegnen, mit mir verglichen zu werden. Während ich gradlinig meine Schul- und Studienzeit absolviert habe, ist sie nach der mittleren Reife in die USA gegangen. Um dort zu leben und zu arbeiten. Sie hat einen ganz eigenen Weg gewählt. Ich gebe zu: Ich bin bis heute etwas neidisch.

Aber ich bewundere sie auch für ihren Mut. Wie wir mit uns, unserer Familie und der Welt umgehen, hat viel damit zu tun, welche Erfahrungen wir als Geschwister oder als Einzelkind gemacht haben. Ich habe das Gefühl, so vieles besser zu verstehen. Mich selbst, meine Schwester, aber auch andere.

Geschwister sind ein großer Schatz im Leben. Wir haben sie uns nicht ausgesucht. Sie sind da.

Vielleicht wird deshalb auch im Neuen Testament davon gesprochen, dass alle Christen und Christinnen wie Brüder und Schwestern sind. Wie in der Familie kann ich mir meine Glaubensgeschwister nicht aussuchen. Mit manchen verstehe ich mich gut, mit anderen gar nicht. Aber ich muss mit ihnen leben. Und sie mit mir. Denn uns verbindet etwas – und das ist unser Glaube. Der Glaube daran, dass wir alle Kinder Gottes sind. Dass sein Segen uns allen gilt.

Mir jedenfalls hilft das. An meiner Geschwisterposition kann ich nichts ändern. Ich bin und bleibe die Erstgeborene. Das prägt mich. Aber, das hat mir die Geschichte von Jakob und Esau gezeigt: Wie ich diese Rolle ausfülle, das liegt bei mir.

Gott sei Dank.

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