Paulus in Ephesus

Paulus in Ephesus

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Manchmal scheint es, als seien die alten Fragen ausgefragt und die alten Antworten zu Ende gesagt. Manchmal scheint es, dass heute alles anders sei als früher, dass wir vor ganz neuen Herausforderungen stünden und die alten Bilder und Worte keine Kraft mehr hätten. Ich glaube, das ist nicht wahr. Die alten menschlichen Erfahrungen und Schicksale, die Enttäuschungen und die Träume, die Suche nach Gott und die tiefen Zweifel bleiben die gleichen. Sie begleiten jeden Menschen, und es wird sie geben, solange es Menschen gibt.

Deshalb möchte ich Sie einladen, mit mir heute einer prominenten Persönlichkeit aus der Bibel zu begegnen. Dazu müssen wir in Gedanken eine Reise in die Vergangenheit unternehmen. Wir gehen zweitausend Jahre zurück, nach Kleinasien, an die Ägäis-Küste, in die Hauptstadt der römischen Provinz Asien: Ephesus.

Eine  kleine Dachkammer eines unscheinbaren Hauses im Hafenviertel von Ephesus. Wenn wir uns weit aus dem schmalen Fenster beugen, können wir vorn an der Ecke einen Blick auf den quirligen Strom der Karren, der Tiere, der Sklaven und der Händler werfen. Unter Lärm und Geschrei drängen sie auf der breiten Straße vom Hafentor hinauf zum großen Theater und weiter zur Agora, dem riesigen, marmorgepflasterten Marktplatz. Ephesus ist der wichtigste Umschlaghafen für den Warenverkehr zwischen Kleinasien und Griechenland. Von hier nach Piräus braucht man mit einem normalen Segler nur drei bis vier Tage. Seit zwei Jahren wohnt hier mit seinem Gefährten Silvanus ein kleiner, unscheinbarer, hagerer Mann, ein Zeltmacher aus Tarsus, der sich Paulus nennt.

Musik: Wolf Silver, Nomadic Tribes, The Unicorn Ensemble

Eigentlich ist Paulus auf seiner dritten Missionsreise. Dass es seine letzte sein wird, weiß er noch nicht. Wohl im Frühling 53 oder 54 ist er von Antiochia auf dem Landweg durch die unwirtlichen Hochebenen und Gebirgspässe im heutigen Anatolien achthundert Kilometer bis an die Küste der Ägäis gewandert. Selten nahm ihn ein Händler-Karren mit. Er lief, soweit ihn die Füße trugen. Er besuchte Gemeinden, die er früher gegründet hatte, arbeitete manchmal eine Woche für seinen Lebensunterhalt und zog bald weiter. Gelegentlich konnte er gut ausgebaute römische Straßen nutzen, dann wieder musste er sich über halsbrecherische Saumpfade durch Gebirge quälen. Sein Ziel war Ephesus, die marmorweiße, reiche Hafenstadt an der Ägäis.

Paulus näherte sich der Stadt vom Land her. Und so sah er schon von weitem die hoch aufragende Tempel-Silhouette des 300 Jahre alten, weltberühmten Artemis-Heiligtums. 120 Jahre lang hatte man daran gebaut. Allein der Sockel des Tempels war drei Meter hoch und umfasste eine Fläche von über 8.000 Quadratmetern. Die 117 Säulen waren 18 Meter hoch, so wie ein sechsstöckiges Haus. Als die Römer das Land besetzten, nannten sie die Göttin des Tempels nicht mehr Artemis, sondern Diana. Die Diana von Ephesus.

Vielleicht war es früher Morgen, vielleicht fiel gerade ein Strahl der aufgehenden Sonne durch den riesigen Säulenwald des Tempels bis in die eigentliche, Cella genannte, Behausung der Göttin. Dann strahlte ihr silbern und golden verkleidetes Standbild aus Rebenholz für Minuten grell und blendend auf, begleitet von Weihrauchschwaden, feierlichen Gesängen der Priester und dem dumpfen Klang heiliger Becken. Vielleicht ging ein Raunen durch die andächtig versammelte Menge, die meisten fielen auf die Knie oder warfen sich in den Staub.

Musik: Wolf Silver, Greec Era, The Unicorn Ensemble

Viele kleinere Bauten umgaben das heilige Areal um den Tempel der Diana. Dort tummelten sich Wahrsager und Magier in Scharen, wurde auch religiöses Kunstgewerbe feilgeboten, so wie heute noch in Wallfahrsorten. In Ephesus waren das Nachbildungen der großen Göttin mit den vielen Brüsten in glasiertem Ton und in Marmor, in Kupfer und in Silber und für die Superreichen manchmal vielleicht auch in schierem Gold. Lautstark priesen die Händler und Juweliere ihre Waren an und versprachen jedem den Segen der mächtigen Diana, der eines dieser Amulette bei sich tragen würde. Paulus zog seines Weges, aber die Sache ließ ihm keine Ruhe.

Paulus: Silvanus, ich muss hier länger bleiben. Ich habe schon viele Tempel und Altäre gesehen, römische und griechische, ägyptische und phönizische. Alle versuchen sie, Menschen bei ihrer Angst zu fangen, jeder auf seine Weise. Sie versprechen Sicherheit und ziehen dann den Menschen das Geld aus der Tasche. Aber diese Diana … dieser riesige Götzendienst ist furchtbar.

Silvanus: Aber das machen doch alle so, und schon immer. Was willst du denn tun?

Paulus: Ihnen von Christus erzählen. Von seinem Leben, seinem Sterben, seiner Auferstehung, seiner Botschaft von der unfassbaren Gnade unseres Gottes. Immer wieder. Jeden Tag. Niemand braucht Opfer, niemand braucht Diana. Verstehst du? Die Menschen sind frei durch die Gnade Gottes! Wer es hören will, soll es hören können.

Silvanus: Das Eu-angelion, die gute Botschaft?

Paulus: Genau die.

Silvanus: Aber so eine gute Botschaft, so ein Eu-angelion, haben ganz viele. Es gibt hier in Ephesus jede Menge Wander-Philosophen, die hier täglich am Markt auf Kundschaft warten.

Paulus: Ich weiß. Aber es gibt keinen anderen Weg als zu reden und immer wieder zu reden. Ich will die Menschen gewinnen, nicht blind und taub machen und anschließend ausnehmen wie die Diana-Priester.

Musik: Paul Engel, Venezianisches Déjá-vu; Ensemble Art of Brass

Die Hafenstadt Ephesus an der Mündung des Flusses Kaystros in die Ägäis war reich, unermesslich reich. Neben den Händlern waren es die Pilger, die Geld in die Stadt brachten. Denn der riesige Tempel der Diana, Göttin der Jagd und der Fruchtbarkeit, war eines der sieben Weltwunder der Antike. Erbärmlich klein fühlten sich alle Menschen vor diesem gigantischen Heiligtum. Artemis konnte reiche Ernten und  Erfolg, aber auch Tod und Verderben bringen. Man tat gut daran, sie angemessen zu verehren. Eben das war ein wichtiger Geschäftszweig in Ephesus, besonders für die Juweliere, die kleine silberne Nachbildungen des Tempels und der Diana feilboten. Und die beiden großen jährlichen Prozessionen zum Tempel der Diana waren für sie so etwas wie das Weihnachtsgeschäft heute.

Paulus:  (erwacht, schläfrig) Wie spät ist es?

Silvanus: Die Sonne ist gerade aufgegangen. Hast lange geschlafen, für deine Verhältnisse.

Paulus:   Habe übles Zeug geträumt. Musste andauernd fliehen. Gott sei Dank, dass es vorbei ist. (seufzt) Was hast du zum Frühstück?

Silvanus: Ein paar Oliven, Schafskäse, eine halbe Gurke, Fladenbrot. Und Wein mit etwas Wasser,  wenn du willst.

Paulus: Gib her. Das Wasser hier bekommt mir nicht. Alle verehren Dionysos, den Gott des Weines. Weil sie einen Grund zum Saufen brauchen. (lacht ein wenig) Er ist kein Gott. Aber der Wein hat mein Gedärm schon oft gerettet. Besonders vor diesem elenden Wasser hier am Hafen.

Silvanus: Was machst du heute?

Paulus: Arbeiten.  Gaius Publius will spätestens bis morgen das Sonnendach für seinen Platz im Theater genäht haben. Das geht in zwei, drei Stunden. Warst du bei diesem Besitzer der Redner-Halle?

Silvanus: Gestern Abend noch. Er heißt Tyrannus. Ist stadtbekannt und unheimlich reich, glaube ich. Vermietet seine Halle wochenweise. Diese Woche geht es nicht mehr. Aber nächste Woche kannst du sie haben. Von 11 Uhr am Morgen bis zur vierten Stunde am Nachmittag.

Paulus: Gut, dann mach‘ das fest. Für die Kosten werden wir sammeln.

Musik: Paul Engel, Te Deum; Ensemble Art of Brass und der Esstonian Philharmonic Chamber Choir (kurz)

Drei Monate lang hat Paulus versucht, in der jüdischen Synagoge von Ephesus Anhänger für seine Botschaft vom hingerichteten und auferstandenen Jesus Christus zu finden. Ohne viel Erfolg. Die bittere Wahrheit ist: Berichte von Auferstehungen Gestorbener gibt es um diese Zeit elend  viele. Wobei besonders eifrige Wanderprediger sich auch gerne selbst als Auferstandene präsentieren. Sie ernten überwiegend Misstrauen und Gelächter.

Paulus tut sich schwer in diesem wabernden religiösen Sumpf. Zudem muss er regelmäßig seinen Lebensunterhalt verdienen. Im Unterschied zu seinen Konkurrenten lehnt er es ab, Spenden für sich persönlich anzunehmen. Fast täglich arbeitet er viele Stunden in seinem erlernten Beruf als Zeltmacher. Das Werkzeug trägt er immer bei sich: Ein Messer zum Schneiden, eine Ahle, gewachstes Garn. Leder oder Zelttuch bringen die Kunden mit. Zeltmacher haben im Mittelmeerraum immer genug zu tun. Zelte und Segeldächer sind wegen der sengenden Sonne auf den Märkten, bei Festen und in der großen Arena unentbehrlich.

Paulus ist Handwerker aus Überzeugung, aber noch viel mehr ein begeisterter und kluger Prediger. In der bunt und aufgeregt wirbelnden religiösen Szene der Weltstadt Ephesus erscheint er zwar vielen nur als kauziger Exot. Aber seiner Leidenschaft tut das in wochenlagen Predigten und Diskussionen in der Redner-Halle des Tyrannus, meist um die Mittagszeit, keinen Abbruch. Die Zahl seiner Zuhörer wächst, und im Laufe der Zeit wird seine Botschaft sogar Stadtgespräch.

Musik: Michael Posch, Virelai

Paulus: Hörst du den Lärm?

Silvanus:Es sind viele, undglaublich viele. Ich habe vorhin gesehen, wie sie zum Theater gerannt sind. Viele Tausende, vielleicht zwanzig, dreißigtausend oder mehr!

Paulus: Ich habe die Plakate des Demetrios gesehen, auf der Kuretenstraße …

Silvanus: (fällt ein) Tod dem Paulus, der unsere geliebte Diana lästert.

Paulus: Wo sind Gaius und Aristarch?

Silvanus: Man hat sie ergriffen und ins Theater geschleppt.

Paulus: Um Gottes Willen! Ich muss zu ihnen!

Silvanus: Bleib hier! Du kannst nichts für sie tun. Es ist ein riesiges Durcheinander. Keiner kommt zu Wort, aber seit zwei Stunden schreien sie immer wieder: Diana ist unsere einzige Göttin, nicht dieser gekreuzigte Judengott  … du musst dich verstecken, du musst aus der Stadt! Das Theater ist voll. Sie brüllen sich die Seele aus dem Leib. Demetrios lässt sie kostenlos mit Wein versorgen.

Paulus: Nein, ich werde hingehen … Ich muss mit ihnen reden!

Silvanus: Das wirst du nicht tun! Du weißt, mit wem du dich angelegt hast. Demetrios ist Sprecher der Silberschmiede. Sie haben panische Angst um ihr Geschäft. Wenn du hier weiter Erfolg hast, wenn der Glaube an Jesus sich verbreitet, dann braucht man keine Diana. Niemand wird dann mehr die silbernen Figuren kaufen. Dann können sie zumachen! Versteh doch! Du bist in Lebensgefahr!

Gegen Abend beruhigt sich die Lage. Die Gefährten des Paulus, Gaius und Aristarch, kommen wieder frei. Die Menge zerstreut sich. Wir wissen nicht, ob die Umsätze der Silberschmiede durch die Predigten des Apostels tatsächlich zurückgegangen waren. Vielleicht wollten es die Geschäftsleute auch einfach nicht so weit kommen lassen und schürten deshalb geschickt eine Massenhysterie.

Nachlesen kann man das alles mit vielen Einzelheiten im 19. Kapitel der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Christenheit, dass die Botschaft Jesu von der Liebe Gottes und wirtschaftliche Interessen so hart in Gegensatz gerieten. Viele weitere Auseinandersetzungen dieser Art werden folgen, und es wird sie auch künftig geben. Paulus kämpfte in Ephesus gegen die riesige Macht eines heidnischen Tempels und machte sich alle zu Feinden, die bisher daran gut verdient hatten. Schon immer verstanden und verstehen sich die wirtschaftlich Mächtigen gut darauf, Menschen mit missliebigen Botschaften klein zu halten.

Aber das klappt nicht immer. Manchmal ergreift die Friedensbotschaft des Jesus von Nazareth von der Liebe Gottes viele Menschen in kurzer Zeit. Dann kann sie nicht nur Wirtschaftszweige, sondern sogar ganze Staaten zu Fall bringen. „Schwerter zu Pflugscharen“ hieß seit 1980 das Motto der kirchlichen DDR-Friedensbewegung. Keine zehn Jahre später fiel die Mauer. Friedensgebete in den Kirchen und gewaltlose Demonstrationen im Geiste Jesu hatten sie am Ende in wenigen Monaten zum Einsturz gebracht.

Musik: Michael Posch, Virelai

Was war es, das damals in Ephesus und bis heute unzählige Male Menschen von der Botschaft Jesu überzeugte, gegen alle politischen Mächte und wirtschaftlichen Interessen? War es die große Gastfreundschaft der Christen, ihre Bereitschaft zur Versöhnung, ihr sozialer Einsatz für die Schwachen, von denen schon die Apostelgeschichte immer wieder erzählt? Im Grunde war es wohl einfach die neue, befreiende  Botschaft Jesu von der bedingungslosen Gnade Gottes.

Gottes Gnade lässt sich nicht verdienen und nicht kaufen. Sie braucht keine ängstlichen Kosten-Nutzen-Rechnungen des Glaubens und verbietet jede religiöse Geschäftemacherei. Leider hat sich das Christentum im Laufe seiner Geschichte nicht immer an diesen ehernen Grundsatz gehalten. In dunklen Zeiten wurde auch versucht, den Glauben an Jesus Christus wie beim Diana-Kult von Ephesus zu einer Handelsware zu machen. Der Reliquienrummel in den Wallfahrtsorten des Mittelalters war ebenso ein millionenschwerer Wirtschaftszweig wie der Handel mit den berüchtigten Ablassbriefen.

Immer wieder gab es Menschen, die dann im Geiste Jesu gegen die machtvollen religiösen Kartelle aufbegehrten. Der Reformator Martin Luther war nur einer von ihnen. Aber die Versuchung, Glaube und Geschäftemacherei zusammen zu bringen, ist groß, und sie ist nicht aus der Welt. Deshalb werden auch heute wachsame Christen gebraucht.

Wer heute das antike Ephesus besucht, wird auch zu dem Ort geführt,  an dem sich einst der riesige Diana-Tempel erhob. Viel ist nicht mehr zu sehen. 200 Jahre nach Paulus wurde er von den Goten zerstört. Später ließen Erdbeben einstürzen, was noch geblieben war. Anwohner versorgten sich in den Trümmern über Jahrhunderte  mit Baumaterial. Der Rest wurde für eine riesige, dem Johannes geweihte christliche Basilika auf dem nahegelegenen Hügel und später für eine Moschee verwendet. Das sumpfige Tal gehört heute wieder den Störchen, den Fröschen und den Schlangen. Einsam erhebt sich in der Mitte eine einzelne Säule, die man für die Touristen aus Fragmenten zusammengesetzt hat. Das einstige Weltwunder von Ephesus ist längst vergangene Geschichte. Der Glaube an Gott, der den Menschen in Jesus Christus seine befreiende Liebe zeigte, dieser Glaube, den Paulus verkündete, dieser Glaube lebt.

Musik: Paul Engel, Te Deum, Ensemble Art of Brass

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