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Eine Sendung von

Journalistin und Autorin im Ruhestand, evangelisch, Frankfurt

Danken ist Sinngebung - die Abschiedsbriefe von Freya und Helmuth James Graf von Moltke

Danken ist Sinngebung - die Abschiedsbriefe von Freya und Helmuth James Graf von Moltke

Das Buch, das mich nun schon so lange beschäftigt, ist umfänglich. Es hat über 600 Seiten und man liest es wahrlich nicht in einem Tag. Man liest es auch nicht in einer Woche, ich habe Monate dazu gebraucht. Nein, ich rede nicht von der Bibel. Ich rede von den Abschiedsbriefen aus dem Gefängnis Tegel, die zwischen September 1944 und Januar 1945 zwischen Helmuth James Graf von Moltke und seiner Frau Freya hin und hergingen, in die Zelle geschmuggelt und wieder heraus von dem mutigen Gefängnispfarrer Harald Pölchau.

Moltke gehörte zum deutschen Widerstand gegen Hitler. Er hat kein Attentat vorbereitet, wohl aber versucht, Grundlagen zu legen für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland, das seinen christlichen Wurzeln verpflichtet blieb. Freya hat an allen Treffen des Netzwerks teilgenommen, wenigstens soweit sie in Kreisau, dem oberschlesischen Stammsitz der Moltkes stattfanden. Sie hat die politischen Entwürfe unter den Dachsparren des Schlosses versteckt und die Briefe im Bienenstock. Sie war eingeweiht, solidarisch und lebensklug.

Wie durch ein Wunder blieben die versteckten Dokumente unentdeckt und so erhalten. Erst nach ihrem Tod hat Freya von Moltke diese sehr persönlichen letzten Briefe zur Veröffentlichung freigegeben. Seit 2011 liegen sie nun vor. Es sind die Abschiedsbriefe eines Mannes, der, seinen Tod vor Augen, auf sein Leben zurück blickt und mit Gott um den inneren Frieden ringt, und einer Frau, die das gemeinsam Begonnene fortsetzen muss und auf die noch viele Aufgaben im Leben warten.

Moltke war damals 38 und Freya 34 Jahre alt, ihre beiden Söhne sieben und vier Jahre alt. Am 10 Januar 1945, die Russen standen schon 80 km vor Berlin, wurde Helmuth James von Moltke wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und am 23. Januar im Gefängnis Plötzensee hingerichtet.

Was beeindruckt so an diesem Briefwechsel zwischen Helmuth James von Moltke und seiner Frau Freya? Inhaltliche Spannung kann es nicht sein. Wir kennen das Ende, bevor wir die erste Seite aufschlagen. Auch die äußeren Umstände bleiben sich gleich: Hier die Gedanken aus der Zelle, in der der Gefangene auf den Prozess wartet. Taktisch um sein Leben kämpft und sich zugleich seelisch auf das mögliche Todesurteil vorbereitet. Durch intensives Bibelstudium. Dort die liebevollen Nachrichten von der Außenwelt, von den „Söhnchen“, den Freunden, von Saat und Ernte, vom Schwein, das geschlachtet werden soll und von den vielen vergeblichen Bittgängen Freyas zu politischen Instanzen und Schlüsselfiguren.

Was also fesselt dann über 600 Seiten? Was gibt es da zu entdecken? Erstaunliches, finde ich. Unter extremen Bedingungen reifen hier zwei Menschen zu einer solchen inneren Nähe, dass sie diese Wochen zwischen Leben und Tod, Hoffen und Bangen am Ende als die für sie kostbarsten ihres Lebens bezeichnen werden.

„Ich habe manches gelernt, ich habe zu vielem eine ganz neue Beziehung bekommen. Ich habe gelernt, mit mir ganz allein zufrieden zu sein, ich habe die Bibel kennengelernt, wie es mir sonst wohl nie möglich gewesen wäre. Ich habe Höhen und Tiefen erlebt, bin gedemütigt und wieder aufgerichtet worden. Ob der liebe Gott mich dieses alles hat erfahren lassen, um mich reif für den Tod zu machen, oder ob er mich mit diesem noch einmal in die Welt entlässt? Schon die Frage ist ungebührlich.“ (Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel)

Freya schreibt, rückblickend, 1946 an die Schriftstellerin Ricarda Huch, die ein Erinnerungsbuch an die Männer und Frauen des Widerstands zusammenstellte:

„Ich gehöre…zu den wenigen Glücklichen, die ihren Mann bis zum Tod aus nächster Nähe begleiten durften, ja, ich bin vielleicht die Einzige, der das geschenkt wurde. Und die Dankbarkeit für diese Tatsache und die vier herrlichen Monate – ich weiß wirklich kein anderes Wort für diese erfüllte Zeit…die ich ..mit ihm, d.h.in solch nahem Kontakt mit ihm, verbringen durfte, wird mich mein Lebtag nicht verlassen“ (Ricarda Huch, In einem Gedenkbuch zu sammeln, Leipzig 1898).

Dankbarkeit: damit ist das entscheidende Stichwort gefallen. Denn wo wir von der objektiven Sachlage her nichts  als Bitterkeit und Verzweiflung erwarten könnten, durchzieht diese Briefe eine Grundmelodie des Dankens.

„Die Haft… hat mich mein Leben in einem Glanz sehen gelehrt, der mir vorher nie richtig klar geworden war, weil er in der Arbeit des Tages unterging. So kehre ich heim , beladen mit Liebe und Freundschaft, mit einem vollen, bis an den Rand gefüllten Leben, in dem ich das Glück hatte, nie etwas tun zu müssen, was mit meinem Gewissen nicht in Übereinstimmung gestanden hätte. Die Dankesschuld ist ungeheuer.“ (Günther Brakelmann, Helmuth James von Moltke, eine Biografie, S. 327)

Dankbar blicken beide auf ihr bisheriges Leben zurück. Dankbar für das, was ihnen mitgegeben war und dankbar für das Geschenk ihrer Liebe.

„Mein Herz, wir müssen erneut danken, danken, danken, dass uns dies Glück beschert worden ist. Und, mein Herz, hast Du bemerkt, dass wir keine Sorgen haben, dass  wir voneinander wissen, dass unsere scheinbar getrennten Wege immer zusammen gehen. Du mit mir in die Ewigkeit und ich zu Deiner Wärme auf Deinem weiteren Lebensweg. Ich schreibe das so ohne Alternative, weil ich will, dass wir auf dieser Basis  aufbauen und uns nicht in Bildern eines gemeinsamen Weges verlieren. Aber glauben, mein Herz, glauben, dass der Herr mich erhalten kann, wollen wir mit aller Macht.“ (Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel, S. 184)

Und mit Blick auf die Zukunft gibt Moltke Freya den Rat:

"Mein Herz, binde das Seil an dem Du über den Strom steuerst, an die Pflöcke „Dank“ hinter Dir und „Glauben“ vor Dir, so wirst Du schon irgendwie über den Strom kommen. Und wenn Du die Pflöcke ganz fest einrammst, dann solltest Du imstande sein, der Wellen zu lachen, so hoch sie auch immer gehen mögen."

Moltke war ein intellektueller, weltläufiger Jurist. Experte für Völkerrecht im Oberkommando der Wehrmacht, eine Position, die er klug zu nutzen verstand. Im Widerstand war ihm die  Bedeutung des Christentums für eine politische Ordnung, die die Würde des Menschen verteidigt, aufgegangen. Was jedoch die biblische Botschaft von der Liebe Gottes für Leben und Sterben des Einzelnen  bedeuten kann, hat er erst in der Haft erfahren.

Die Bibel, die Losungen und das Evangelische Gesangbuch waren in der Zelle seine tägliche und einzige Lektüre, und was er las und darüber dachte, nimmt breiten Raum in diesen Briefen ein. Das ist keine gelehrte Theologie, das ist  Befragung aus innerster Not. Mit Antworten, die niemals billiger Trost sind, sondern selbst erarbeitet, selbst durchlitten. Bei diesem protestantischen „Selbstdenker“ ist eine geistliche Leidenschaft lebendig, die den Leser nicht unberührt lässt. Vielen wird es so gehen wie mir: man holt  die eigene Bibel heraus, um die Fundstellen nachzuschlagen, über die sich Moltke und Freya  in den Briefen austauschen.

Eine nachdrücklichere Religionsstunde habe ich nie erlebt. Moltke kannte durchaus die Angst vor dem Sterben. Aber mehr noch die Angst, nicht mehr glauben zu können und damit aus der Hand Gottes herauszufallen, in der allein er Frieden finden konnte und die  Umstände ihre Schrecken verloren.

"Und daher lebe ich…in einem Gefühl der Furcht, einer edlen Furcht sozusagen, ob er mir den Glauben erhalten wird. Wenn ich nachts aufwache, dann ist so eine spontane Reaktion der Gedanke: Glaube ich noch? Dieses Gefühl völliger Abhängigkeit ist eben neu, und ich hoffe, mit ihm meine Hoffart klein zu halten. Aber das ist immer wieder schwer" (Abschiedsbriefe S. 213 f).

Doch Seite um Seite wird deutlich, dass beiden Moltkes aus dieser Bereitschaft, sich unter Gottes Hut zu stellen, eine neue Kraft zu wuchs.

"Mein Jäm, wieviel reicher lässt Du mich zurück, wenn Du sterben musst, wie vor drei Monaten. Wir hatten ein reiches, glückliches, harmonisches, gesegnetes, nie getrübtes gemeinsames Leben hinter uns und erkannten es voll Dankbarkeit und Glück, wir waren reich im Anblick der Vergangenheit, aber, mein geliebtes Herz, jetzt sind wir reich im Hinblick auf die Zukunft. Wir sind beide so vollkommen durchdrungen von dieser Gewissheit, dass wir nicht nur für dieses Leben zusammengehören, dass unsere Liebe stärker ist als der Tod…und dass Du mich und ich Dich in Gott immer finden kann" (Abschiedsbriefe S. 313).

Danken, so machen diese Abschiedsbriefe deutlich,  ist weit mehr als ein zentraler Bestandteil guter Umgangsformen. Es ist der Königsweg zur Lebenszufriedenheit. Danken ist Sinngebung. Indem ich danke, anerkenne ich, dass etwas für mich bestimmt ist. Danken heißt annehmen. Heißt in Beziehung treten. Heißt sich als begleitet erfahren. Danken macht reich.

Doch ob wir von Gabe oder Sinngebung, von Geschenk oder von Schicksal  sprechen: immer klingt in diesen Worten die Anwesenheit einer Kraft mit durch, die eben „schickt“ oder „gibt“. Man kann sich nicht selber danken. Für die beiden Moltkes und für viele von uns hat, auf der metaphysischen Ebene, diese Kraft einen Namen: Gott. Sich zur Dankbarkeit durchzukämpfen, wenn das Leben aus seinen Gleisen gerissen wird, kann eine existentielle Gotteserfahrung sein, die der eigenen Existenz einen neuen Sinn einschreibt.

So löste zum Beispiel der Tenor der Anklage, auf die der Volksgerichtshofprozess im Januar 1945 aufbaute, in Moltke noch einen Impuls des Dankes aus. Denn das Todesurteil wurde vom Nazi-Richter Freisler mit einem „Defätismus“ begründet, der in Moltkes Christentum wurzele. „Herr Graf“, sagte er, „eines haben das Christentum und wir Nationalsozialisten gemeinsam und nur dies eine: Wir verlangen den ganzen Menschen.“ (Abschiedsbriefe S. 479)

Der Verurteilte vernahm`s mit Zustimmung. Nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adeliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher und nicht einmal als Protestant habe er vor Freisler gestanden, sondern als Christ und als gar nichts anderes, schreibt er in einem Abschiedsbrief unmittelbar nach der Urteilsverkündung. Moltke sah in dieser Repräsentanz am Ende seinen Lebensauftrag. Er schreibt an seine Frau:

„Was immer geschieht, mein Herz, was immer der Herr mit uns vorhaben mag, er hat uns in diesen Monaten sehr große Gnade erwiesen; er hat uns einen ganz kleinen Blick in die Unerforschlichkeit seiner Ratschlüsse tun lassen, in die Unergründlichkeit seiner Wege und die Unerschöpflichkeit seiner Mittel. Wie wenigen Menschen wird das geschenkt. Wie wenig Menschen können in dem Gefühl sterben oder leben, dass ihnen Gott selbst ein Thema,  einen Auftrag nicht nur  gestellt sondern offenbart hat. So, mein Herz, sind wir auch für die Tage vom 9.-11 Januar 1945 nichts als Dank schuldig.“ (Abschiedsbriefe S. 507)

Moltke formuliert hier sein Vermächtnis für die Nachwelt. Direkt an Freya gewendet heißt es nüchterner:

„Zu meinem Tod habe ich gar nichts mehr zu schreiben. Du weißt alles ganz genau. Ich bin wahrlich kein Heroe, habe auch keine Lust zu sterben, aber irgendwie wird es mir schon so gelingen, dass ich keinen Augenblick dabei vergesse, dass ich in Gottes Hand bin und bleibe, ja ganz fühlbar in seine Hand zu fallen im Begriff bin. Er wird mir schon helfen. Und dich, mein liebstes Herz, wird er auch zu trösten wissen; auch darüber bin ich viel unbesorgter als vor wenigen Monaten. Es ist eine große Gnade, dass wir wechselseitig über einander so ruhig und beruhigt sein können.“  (Abschiedsbriefe S.449)

Und Freya antwortet mit großer innerer Sicherheit:

"Mein Herz, meine Fürbitte für Dich ist nicht mein Gebet, mein Leben ist es, mein Sein, meine Existenz, mein Zu-Dir-Gehören im Leben, wo immer das Leben gelebt wird…" (Abschiedsbriefe S. 493)

Was macht das nun alles mit uns? Muss ich mir ein tragisches Schicksal wünschen, um glauben, um danken zu können? Hat diese unmittelbar aus der Bibel sich speisende, fundamentale Moltke-Frömmigkeit irgendeine Bedeutung für mich?

Ich kann das nicht für Sie beantworten. Ich kann nur sagen, was diese Briefe bei mir ausgelöst haben. Ich habe für mich, am Beispiel der Moltkes, die erstaunliche Kraft entdeckt, die im Danken steckt. Es ist eine überraschend bereichernde Erfahrung, sein Leben unter dem Aspekt des Dankens zu betrachten. Ich möchte Sie dazu ermutigen. Aus Dank wächst Sinngebung. Und seinem Leben Sinn geben zu können, ist Gnade.

Danken ist aber auch der unmittelbarste Weg, sich Gott zuzuwenden. Es ist die elementarste religiöse Praxis, die dem Menschen möglich ist, weil sie nicht über den Kopf geht, sondern über Herz und Gefühl. Dank ist ein Impuls, ein oft spontaner Impuls, der nach Ausdruck verlangt.

Für den wunderbaren Meister Eckhart, ein religiöser Querdenker des Spätmittelalters, der so viel mehr über die menschliche Seele wusste als all die gelehrten Theologen, die ihn 1328 als Ketzer zum Tod verurteilten, - für diesen Meister Eckhart steckt im Danke-Sagen alles, was Gott von uns braucht.

„Wäre das Wort Danke das einzige Gebet, das Du je sprächest, es würde genügen.“

Literatur:
Helmuth James und Freya von Moltke, Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel, September 1944 – Januar 1945, München 2011.
Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke 1907-1945, Eine Biographie, München 2007.