Ins Stammbuch geschrieben
Mich fasziniert ein großes Bild im Arbeitszimmer meiner Freundin. Da ist der Stammbaum ihrer Familie zu sehen: Vater und Mutter gehen auf vier Großeltern zurück, diese auf acht Urgroßeltern und diese wiederum auf sechzehn Ururgroßeltern. In der fünften Generation sind es dann bereits zweiunddreißig Ahnen, auf die meine Freundin zurückschauen kann. Was bzw. wen gibt es da nicht alles zu entdecken!
Vier Frauen im Stammbaum Jesu – eine ungewöhnliche Auswahl
Auch in der Bibel finden sich solch faszinierende Stammbaum-Bilder, zum Beispiel zu Beginn des Matthäusevangeliums. Dort führt der Evangelist Matthäus in sage und schreibe zweiundvierzig Generationen die irdischen Vorfahren von Jesus auf – von Jesu „Adoptivvater“ Josef bis hin zu den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob. Leider werden in dieser langen Ahnenreihe nur vier Frauen erwähnt: Maria, die Mutter Jesu, Batseba, die Mutter König Salomos, Rut, die Urgroßmutter König Davids und eine Frau namens Rahab. Das würde heute jede Menge Protest hervorrufen, wenn die Mütter nicht erwähnt würden!
Wer sind Rut, Batseba, Maria und Rahab – und warum sind sie besonders?
Warum werden aber ausgerechnet diese vier Frauen aufgeführt? Was zeichnet sie aus? Von Rut wird erzählt, dass sie treu war. Sie folgt ihrer Schwiegermutter Noomi in ein fremdes Land mit den Worten: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ Batseba muss sehr schön gewesen sein – so schön, dass der große König David den Tod ihres Mannes Uria befahl, um anschließend die junge Witwe zur Frau zu nehmen. Und Maria muss von allen Menschen wohl die reinste Seele gehabt haben – wie sonst hätte sie den Sohn Gottes empfangen können? Aber was ist mit Rahab? Was zeichnet diese Frau aus? Nach der Musik erzähle ich ihre Geschichte.
Musik: Joseph Haydn: Streichquartett A-Dur op.3 Nr. 6
Was zeichnet Rahab aus? Ihre Geschichte ist schnell erzählt. Wir müssen dafür allerdings weit zurückreisen – bis ans Ende der vierzigjährigen Wüstenwanderung des Volkes Israel. Mose ist inzwischen gestorben und hat die Führung des Volkes an seinen Nachfolger Josua übergeben. Nun stehen die Israeliten vor den Toren des verheißenen Landes Kanaan. Aber das Land ist bewohnt. Seine Übernahme wird nicht ohne Gewalt abgehen. Dem Volk Israel eilt der Ruf voraus, unbesiegbar zu sein. Denn es hat einen mächtigen Gott auf seiner Seite – einen Gott, der Könige und Völker in seine Hand gibt. Nun stehen die Israeliten vor den Toren Jerichos. Josua schickt Spione aus, damit diese die Lage in der Stadt auskundschaften. In Jericho wohnt auch eine Prostituierte namens Rahab. Sie ist sich ziemlich sicher: Jericho wird den Feinden nicht standhalten. Die Stadt wird fallen. So geht sie in die Offensive: Sie versteckt die israelitischen Spione vor dem Zugriff der Stadtwache und bietet ihnen an, ihnen zur Flucht zu verhelfen. Im Gegenzug sollen die Spione ihr garantieren, dass Rahab und ihre Familie bei der Eroberung Jerichos verschont werden. Beide Seiten willigen ein und beide Seiten halten Wort: Die Männer können unbehelligt die Stadt verlassen, und Rahab und ihre Familie kommen bei dem Angriff auf Jericho nicht zu Schaden. Mehr noch: Rahab heiratet einen Israeliten namens Salmon und wird so zur Ururgroßmutter von König David. Doch warum wird ausgerechnet sie – neben Rut, Batseba und Maria – in Jesu Stammbaum erwähnt?
Rahab: Eine Prostituierte im Stammbaum Jesu
Das Erste, das wir von Rahab erfahren, ist ihr Beruf. Rahab ist eine Prostituierte. In der Bibel heißt es: „Die Kundschafter gingen hin und kamen in das Haus einer Hure, die hieß Rahab.“ Manch einer mag sich angesichts dieses Umstands verwundert die Augen reiben und sagen: „Eine Prostituierte in Jesu Stammbaum? Das hätte ich nicht gedacht.“ Manch einer mag auch ein wenig verächtlich die Nase rümpfen. Ich bin mir aber sicher: Jesus hat mit Blick auf seine Vorfahrin Rahab nicht die Nase gerümpft. Er schließt nicht von einem fragwürdigen Beruf auf den Menschen, der ihn ausübt – und der vielleicht gar keine andere Wahl hatte. Jesus sieht immer den Menschen „dahinter“. Vielleicht hatte Jesus deshalb einen besonderen Zugang zu den Menschen, die zu seiner Zeit als „Sünder“ angesehen wurden – zu Zöllnern und nicht zuletzt zu Prostituierten: Weil sich in seinem Stammbaum diese Rahab befindet. Und vielleicht suchten diese Menschen gerade deshalb die Nähe Jesu. Weil sie spürten: Hier ist einer, der nicht gleich die Nase rümpft.
Was macht Rahab so außergewöhnlich? Vier Tugenden mit Strahlkraft
Aber was zeichnet Rahab nun aus? Was wird Jesus mit ihr in sein irdisches „Stammbuch“ geschrieben – und mit ihm auch uns, die wir in Jesu Nachfolge stehen? Für mich sind dies vier Dinge: Mut, Fürsorge, Weitblick und nicht zuletzt: Vertrauen.
Musik: Joseph Haydn: Streichquartett A-Dur op.3 Nr. 6
Mut, Fürsorge, Weitblick und Vertrauen – diese vier Dinge zeichnen Rahab aus. Sie sind Jesus durch sie ins Stammbuch geschrieben – und mit ihm auch uns.
Mut – für andere das eigene Leben riskieren
Da ist zunächst einmal Mut. Rahab hat wirklich Mut. Sie wagt es, die fremden Kundschafter in ihrem Haus zu verstecken. Sie begibt sich damit für andere in Lebensgefahr. Denn sollten die fremden Kundschafter bei ihr entdeckt werden, gilt das als Landesverrat und wird mit dem Tod bestraft.
Auch Jesus hatte Mut. Er hat sich ebenfalls für andere in Lebensgefahr begeben. Er tat dies sogar in aller Öffentlichkeit: Indem er sich für die Liebe eingesetzt hat – für die Liebe Gottes zu uns Menschen. Indem er diese Liebe durch seine Worte und Taten spürbar und erfahrbar werden ließ. Das hat ihn in Konflikt mit den Mächtigen gebracht. Das hat ihn letztlich ans Kreuz gebracht und dort wie einen Schwerverbrecher sterben lassen.
Sich für andere in Lebensgefahr begeben – das tun Menschen auch heute noch. Einige tun dies ganz bewusst in der Nachfolge Jesu. Sie setzen ihr Leben für andere ein, manche verlieren es dabei. Mut zeigt sich aber nicht nur „unter Lebensgefahr“, sondern auch in den vielen kleinen „Mutproben des Alltags“. Er blitzt überall dort auf, wo Menschen andere nicht allein oder sich selbst überlassen. Er blitzt dort auf, wo Menschen Liebe üben – allen Unannehmlichkeiten, schiefen Blicken und verächtlichen Kommentaren zum Trotz.
Fürsorge – Verantwortung für die Familie übernehmen
Neben ihrem Mut zeichnet sich Rahab auch durch ihre Fürsorge aus: Rahab sorgt für ihre Eltern und Geschwister. Die Sorge um ihre Familie treibt Rahab um. Vielleicht hat diese Sorge sie überhaupt erst in das Leben als Prostituierte hineingetrieben. Nun ringt Rahab den israelitischen Spionen das Versprechen ab, bei der Eroberung Jerichos nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familie zu verschonen.
Die Fürsorge war auch Jesus eigen. Er hat seiner irdischen Familie um seines göttlichen Auftrags willen zwar auch manche Sorge bereitet. Als er zwölf Jahre alt ist, suchen ihn seine Eltern verzweifelt. Doch Jesus sitzt in aller Seelenruhe im Tempel und diskutiert mit den Schriftgelehrten. Aber Jesus hat eben auch für seine irdische Familie gesorgt: „Frau, siehe, das ist dein Sohn“, sagt er vom Kreuz herab zu seiner Mutter Maria und blickt dabei auf seinen Jünger Johannes. Aber Jesus beschränkt seine Fürsorge nicht auf seine Familie. Im gleichen Atemzug sagt er zu seinem Jünger Johannes: „Siehe, das ist deine Mutter“. Jesus sorgt für seine Mutter Maria und zugleich für die, die ihm wie Johannes nachfolgen: Indem er sie für die Zeit nach seinem Tod aneinander verweist. Auf diese Weise sorgt Jesus bis heute für uns Menschen. Er verweist uns aneinander und sagt zu uns: „Siehe, das ist dein Vater. Das ist deine Tochter. Das ist aber auch dein Nachbar, deine Freundin, dein Arbeitskollege. Das ist dein Nächster, der in diesem Moment auf dich angewiesen ist.“
Musik: J.S.Bach, Johannes-Passion: „Er nahm alles wohl in Acht“
Weitblick – Chancen erkennen und handeln
Neben Mut und Fürsorge beweist Rahab auch Weitblick. Als bekannt wird, das sich die militärisch erfolgreichen Israeliten der Stadt Jericho nähern, verfallen die Bewohner in eine Art Schockstarre. Nicht jedoch Rahab. Sie wird aktiv. Sie blickt weiter. In den fremden Kundschaftern erkennt Rahab ihre Chance – ihre Chance auf Rettung. Sie weiß: Jericho wird fallen. Aber rettet sie diesen Kundschaftern das Leben, hat sie ebenfalls Anspruch auf Rettung.
Jesus zeichnet sich ebenfalls durch Weitblick aus. Er hatte aber nicht nur wie Rahab seine eigene Situation im Blick. Jesus hatte das Reich Gottes im Blick – jene Welt, die einmal so sein wird, wie es Gottes Willen entspricht. Von dieser Welt erzählt Jesus in seinen Geschichten und Gleichnissen. Er lässt sie hier auf Erden schon lebendig werden durch einen Vater, der seinen verloren geglaubten Sohn überglücklich in die Arme schließt. Ebenso durch einen Weinbergbesitzer, der allen Arbeitern das zum Leben Notwendige zukommen lässt – unabhängig von ihrer erbrachten Leistung. Diese Welt, das Reich Gottes wird aber auch in Jesus selbst lebendig – durch die Art und Weise, wie er den Menschen begegnet, wie er sie anschaut, mit ihnen spricht und ihnen zuhört. Das Reich Gottes ist durch Jesus bereits ein Stückweit Realität geworden. Und es wartet seither darauf, immer wieder neu und immer ein bisschen mehr Realität zu werden – durch Menschen, die Jesus nachfolgen.
Deshalb frage ich mich: Wann war ich selbst zuletzt ein Mensch mit Weitblick – ein Mensch, der das Reich Gottes im Blick hatte und Gottes Liebe für andere Wirklichkeit werden ließ?
Musik: Joseph Haydn, Streichquartett A-Dur op.3 Nr. 6
Vertrauen – Glaube an einen fremden Gott
Mut, Fürsorge und Weitsicht hat Rahab Jesus bereits ins Stammbuch geschrieben – und mit ihm auch uns. Bleibt noch ein Viertes: Vertrauen. Rahab hat Vertrauen. Sie hat einerseits Vertrauen zu den beiden Kundschaftern. Sie vertraut darauf, dass diese ihr Versprechen halten. Rahab hat andererseits aber auch Vertrauen zu Gott. Sie vertraut darauf: Gott wird sie und ihre Familie nicht zusammen mit den übrigen Bewohnern Jerichos dem sicheren Tod preisgeben. Erstaunlich daran ist: Rahab hat Vertrauen zu einem ihr fremden Gott. Sie kennt den Gott Israels überhaupt nicht. Sie weiß nichts von ihm. Sie weiß allenfalls: Dieser Gott hat Macht. Er hat sein Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten, durch die Wüste und bis hinein ins verheißende Land Kanaan geführt. Dieser Gott kann retten und bewahren. Er kann helfen und schützen – jedenfalls sein auserwähltes Volk Israel. Dieses Wissen genügt Rahab. Es genügt ihr, um diesem für sie fremden Gott zu vertrauen: Er wird es auch mit ihr und mit ihrem Leben gut machen.
Auch Jesus hatte Vertrauen zu Gott. Für ihn war Gott kein Fremder wie für Rahab. Für ihn war Gott sein himmlischer Vater. Aber an einem Punkt seines irdischen Lebens war Gott auch für Jesus ein Fremdgewordener: Damals am Kreuz, als Jesus schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Schließlich vertraut Jesus diesem fremdgewordenen Gott und sagt: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Mit anderen Worten: Gott, so fremd du mir im Moment auch bist: Du wirst es gut machen mit mir, mit meinem Leben und mit meinem Sterben.
Vertrauen lernen – auch wenn Gott fremd erscheint
Das möchte ich auch gern sagen können. Ein solches Vertrauen hätte ich auch gern. Nicht nur das Vertrauen in den „lieben“, den gnädigen und gütigen, den seit Kindertagen bekannten und vertrauten Gott, sondern auch in den anderen, den ganz und gar fremden oder fremdgewordenen Gott. In den Gott, von dem ich das eine Mal viel zu wissen meine und den ich ein anderes Mal – wie aus heiterem Himmel – nicht mehr verstehe. Von dem ich mich enttäuscht und im Stich gelassen fühle. Zu dem ich bete, von dem ich aber keine Antwort erhalte – geschweige denn das, was ich von ihm erbitte. Von dessen Hilfe, Begleitung, Bewahrung, von dessen Segen von einem Moment zum anderen nichts, aber auch gar nichts mehr zu spüren ist. Diesem ganz und gar fremden oder fremdgewordenen Gott möchte ich – wie einst Rahab und Jesus – vertrauen lernen. Was könnte mir dabei helfen? Was hat Rahab damals wohl geholfen?
Musik: Joseph Haydn, Streichquartett A-Dur op.3 Nr. 6
Das rote Seil – Rahabs Zeichen der Hoffnung
Rahab hatte damals etwas, an dem sie sich und ihr Vertrauen im wahrsten Sinne des Wortes festmachen konnte: Sie hatte ein rotes Seil. An diesem roten Seil lässt sie die beiden Kundschafter bei Nacht aus dem Fenster ihres Hauses, das direkt an der Stadtmauer gebaut ist. Dieses rote Seil hängt sie erneut ins Fenster, als sich das Volk Israel anschickt, die Stadt Jericho zu erobern.
Das rote Seil ist Rahabs Erkennungszeichen für die Kundschafter. Es ist aber auch ihr Vertrauenszeichen – das Zeichen, an dem sie sich und ihr Vertrauen festmacht. Ob ich ein solches rotes Seil auch bei mir zuhause finde? Vielleicht finde ich kein dickes rotes Seil, aber dafür einzelne, kleine rote Fäden. Einzelne, kleine rote Fäden des Vertrauens, die sich durch mein Leben ziehen. Momente, in denen Gott da war – ganz spürbar, ganz nahe. Momente, in denen ich bewahrt wurde. Momente, in denen ich ganz konkret Hilfe erfahren habe. Momente, in denen ich mich gesehen und gesegnet gefühlt habe. Momente, die mich allesamt haben erfahren lassen: Ich bin nicht allein. Es ist jemand da, der mich hält und trägt und der mitgeht auf den Wegen des Lebens. Diese einzelnen, kleinen roten Fäden des Vertrauens will ich sammeln, zusammenfügen und dann in das Fenster meines Lebenshauses hineinhängen. Damit ich danach greifen kann – zu Beispiel in Zeiten, in denen es nicht weiter geht, oder in Zeiten, in denen mich eine Krankheit oder ein Verlust aus der Bahn wirft. Immer dann, wenn es darum geht, dem fremden oder fremdgewordenen Gott zu vertrauen.
Rahab im Stammbuch – Inspiration für den eigenen Glaubensweg
Wie gesagt: Mich fasziniert das große Bild im Arbeitszimmer meiner Freundin mit dem Stammbuch ihrer Familie. Mich fasziniert auch der Stammbaum Jesu, den mir der Evangelist Matthäus zu Beginn seines Evangeliums vor Augen malt. Ganz besonders fasziniert mich an Jesu Stammbaum seine Vorfahrin Rahab – eine Prostituierte, die zur Ururgroßmutter des großen König Davids wird. Von ihr möchte ich mir Mut, Fürsorge, Weitsicht und nicht zuletzt Vertrauen in mein ganz persönliches Stammbuch hineinschreiben lassen.
Musik: Joseph Haydn, Streichquartett A-Dur op.3 Nr. 6