hr2 ZUSPRUCH
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Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Wie wäre ich gewesen?

Wie wäre ich gewesen?

Wie wäre ich gewesen?, frage ich mich immer, wenn ich vom Dritten Reich höre. Wie hätte ich mich verhalten? Ich bin später geboren, aber noch nicht so spät, dass ich nicht fast jeden Tag in meiner Kindheit und Jugend davon gehört und die kaputte Stadt Kassel gesehen habe, als ich zur Schule kam. Viel habe ich gehört von den Großeltern, den Eltern, den Tanten und Onkeln. Dann in der Schule, im Fernsehen. Heute wieder der Gedenktag an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz 1945. Je länger es her ist, desto lebendiger steht alles vor meinen Augen. Die zerrissenen Familien, die Bespitzelungen; die Söhne, die Soldaten werden mussten - oder es kaum abwarten konnten, an die Front zu gehen - und nicht wiederkamen. Die Menschen mit dem gelben Stern, die verschämt durch die Straßen schlichen, bis sie eines Tages einfach weg waren. Das Schweigen und nichts wissen wollen, oder das Flüstern und sich in Gefahr bringen... Wie wäre ich gewesen in dieser Zeit? Die Monate in den Kellern der zerstörten Häuser, die Kälte ohne Kohlen, der Hungers mit vier Kartoffeln für zwei Tage - und die alte Nachbarin hungert noch viel mehr. Gebe ich ihr etwas ab von meinen Kartoffeln? Oder muss jeder selber sehen, wo er bleibt?

Wie hätte ich mich verhalten in diesen furchtbaren Jahren? Hätte ich gejubelt oder mich in eine Ecke verkrochen? Hätte ich Menschen versteckt oder verraten? Hätte ich Essen geteilt oder für mich behalten? Was wäre ich für ein Mensch, wenn alle in meiner Familie oder in meiner Straße vor dem Abgrund stehen, jedes Wort falsch ist und Gefängnis bedeuten kann? Und wenn die Versuchung übergroß ist, im Strom mit zu schwimmen und alle Vorteile zu genießen? Wie wäre ich gewesen? Und hätte ich später zu dem stehen können, was ich getan oder gelassen habe? Oder hätte ich mich nach 1945 mit allerlei Worten herausgeredet?

Ich weiß es nicht. Ich bewundere Menschen, die widerstanden haben. Ich bewundere die, die sich nicht haben beugen lassen und den Verfolgten geholfen haben, auch wenn die Hilfe klein war. Ich verurteile niemanden, der begeistert war wie Millionen anderer. Wer nur zurückblicken kann wie ich, darf nicht urteilen. Jeder Mensch kann beides: kann helfen oder verraten; kann sich zuwenden oder wegschauen. Auch ich kann beides. Vor allem, wenn ich Angst habe um mich, kann ich schnell das Falsche tun. Heute lebe ich in gesicherten Verhältnissen, da ist es leicht, gut zu sein. Aber wenn die Gefahr für Leib und Leben groß ist - wie bin ich dann? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich jeden Tag meines Lebens sagen muss (Psalm 23,3): Bitte, Gott, führe mich auf rechter Straße um deines Namens willen.