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Der Stoff, aus dem die Träume sind
Bild: Pixabay

Der Stoff, aus dem die Träume sind

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Sie haben es heute Nacht getan. Ich auch. Wir alle träumen. Ob wir uns am Morgen daran erinnern oder nicht. Manchmal wache ich auf, habe die Szenen aus einem Traum noch genau vor Augen und kann erzählen, was ich geträumt habe. Dann wieder habe ich in der Früh nur mehr eine vage Ahnung: Da war doch was. Von dem Traum ist lediglich das Gefühl übrig, ob er schön war, skurril oder mir Angst eingejagt hat. Es gibt die Klassiker unter den Träumen, die immer wiederkehren. Ein anderes Mal stehe ich auf, als hätte ich traumlos einfach nur durchgeschlafen.

Im Schlaf geht die Seele ihre eigenen Wege. Das hat eine unheimliche Seite. Ich kann nicht steuern, in welche Tiefen ich abtauche. Aber es ist auch faszinierend. Ein Traum öffnet mir ganz andere Welten. Im Traum wird möglich, was in der Wirklichkeit nicht geht. Tagsüber passiert es manchmal, dass ich denke: „Mensch, das hast du doch schon einmal erlebt, davon hast du geträumt.“

Was sagen Träume über mich aus? Haben sie eine Bedeutung für die Gegenwart? Geben sie vielleicht sogar Hinweise für die Zukunft? „War doch nur ein Traum“, so könnte ich aufgeklärt abtun, was ich im Schlaf erlebt habe. Die Bibel tut das nicht. Sie nimmt Träume ernst. In der Vorstellungswelt des Alten und des Neuen Testaments haben wir nicht nur ein Bewusstsein, wenn wir wach sind. Auch im Traum erfahren die Menschen der Bibel etwas über sich selbst und über Gott. Zugleich erzählen sie davon, wie gefährlich Träume sein können.

Die größten Träumer in der Bibel heißen beide Josef. Nennen wir sie einfach Josef 1 und Josef 2. Und beginnen wir mit Josef 1. Seine Geschichte steht ganz weit vorne im Alten Testament. Dieser Josef geht seinen Geschwistern mächtig auf die Nerven mit seiner Träumerei. Sogar seinem Vater Jakob, der ihn heiß und innig liebt, werden Josefs Träume zu viel. Sie sind auch ziemlich abgehoben. Der 17-Jährige erzählt seinen Brüdern zum Beispiel: „Hört doch, was ich geträumt habe. Wir haben Garben auf dem Feld gebunden. Meine Garbe richtete sich auf und stand.

Aber eure Garben stellten sich ringsum und neigten sich vor meiner Garbe.“ (Genesis 37,6-7) Na toll, sagen seine großen Brüder. „Willst du unser König werden und über uns herrschen?“ Die Geschichte nimmt einen bösen Verlauf. Die Brüder haben genug von Josef, Papas ewigem Liebling. Sie werfen ihn in eine Grube. Dort finden ihn Händler einer Karawane und verkaufen ihn als Sklaven nach Ägypten. Dem Vater erzählen die Brüder, ein wildes Tier habe den Jungen zerrissen.

In Ägypten könnte Josef ein elendiges Sklavenschicksal erwarten. Doch er hat Glück. Er kommt in das Haus eines einflussreichen Mannes, der ihn ausgesprochen schätzt. Dessen Frau leider auch. Sie hat ein Auge auf den jungen Hebräer geworfen und will ihn in ihr Bett ziehen. Josef flüchtet aus ihren Armen. Das lässt sie nicht auf sich sitzen. Sie schwärzt ihn bei ihrem Mann an: „Der hebräische Knecht, den du uns ins Haus gebracht hast, hat versucht, mich zu vergewaltigen.“ (Genesis 39,17) Josef landet im Gefängnis.

Ausgerechnet im Kerker beginnt Josefs Traumkarriere. Unter den Gefangenen spricht sich herum: Dieser junge Hebräer kann Träume deuten. Was er aus den Träumen der anderen herausliest, geht in Erfüllung. Sogar der Pharao hört von Josefs Begabung. Der Herrscher Ägyptens hatte nämlich zwei merkwürdige Träume, die er nicht deuten konnte. Das machte ihm zu schaffen.

Der Pharao von Ägypten wacht schweißgebadet auf. Er hatte einen schrecklichen Traum. Im Schlaf steht er am Ufer des Nils. Aus dem Wasser steigen sieben schöne, fette Kühe; die gehen auf die Weide und grasen. Dann steigen sieben hässliche und magere Kühe aus dem Fluss. Die fressen die sieben schönen Kühe auf. Da erwacht der Pharao. Als er wieder einschläft, träumt er nochmals: Sieben Ähren wachsen an einem Halm, voll und dick. Danach gehen sieben dürre Ähren auf, dünn und versengt. Und die sieben dürren Ähren verschlingen die sieben dicken Ähren.

Kühe, die sich gegenseitig auffressen. Ähren, die sich verschlingen. Der Pharao kann sich keinen Reim auf die beiden Träume machen. Aber sie machen ihm Angst. Er befragt seine Wahrsager. Doch keiner gibt ihm eine einleuchtende Erklärung. Da hört er von dem hebräischen Sklaven namens Josef, der im Kerker seinen Mitgefangenen die Träume deutet. Er lässt ihn kommen. „Du kannst Träume deuten“, sagt der Pharao zu Josef. „Ich kann das nicht“, antwortet der. „Aber Gott wird dem Pharao Gutes verkünden.“ (Genesis 41,16)

So erklärt Josef dem Pharao dessen beide Träume: Die Zahl Sieben steht für sieben Jahre. Die fetten Kühe und die vollen Ähren bedeuten sieben gute Jahre. Danach kommen sieben magere Jahre. Die mageren Kühe und die dürren Ähren stehen für Missernte. Eine Hungersnot wird kommen. Und das bald. Deshalb rät Josef dem Pharao, in den sieben fetten Jahren einen Teil der Ernte in Getreidespeichern aufzubewahren. Damit können die Jahre der Dürre überbrückt werden. Am besten, so meint Josef, soll der Pharao einen kompetenten Aufseher einsetzen, der diese große Aufgabe managen kann.

Soll der Pharao etwa seine Politik auf zwei Träume bauen? Noch sieht es im Land so aus, als würde der Wohlstand immer weiter wachsen. Trotzdem lässt der Pharao Getreidespeicher bauen und Vorrat für die dürren Jahre sammeln. Und er setzt Josef an die Spitze seiner Regierung. So wird der mit seinen gerade mal 30 Jahren die rechte Hand des Pharao. Später, als die Dürre wirklich eintritt, fliehen Josefs Brüder vor Hunger nach Ägypten. Sie erkennen in dem mächtigen Mann nicht ihren kleinen Bruder Josef, den sie vor vielen Jahren in die Grube geworfen haben. Als er ihnen sagt, wer er ist, fürchten die Brüder seine Rache. Doch Josef hat längst seinen eigenen Schluss gezogen aus seinen Jugendträumen und wie sie sich verwirklicht haben. Er versöhnt sich mit seinen Geschwistern und sagt: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ (Genesis 50,20)

Die Bibel ist im Orient entstanden. Und dort werden Träume schon immer ernst genommen. Traumdeutung war im Alten Orient kein Hokuspokus, sondern wurde systematisch betrieben. Es gab ganze Traumbücher, in denen tausende Träume gesammelt und nach Themen geordnet waren. Zum Beispiel Träume, in denen es um Essen geht. Träume, in denen ein Kleid eine Rolle spielt oder in denen Verstorbene vorkommen. Die Menschen waren überzeugt: Träume sind ein Weg, auf dem Gott wichtige Botschaften übermittelt.

Doch nicht jeder Traum spricht eine so deutliche Sprache, dass man seine Bedeutung sofort erkennt. Die Träume des Pharao zum Beispiel zeigen Bilder, die ihn verstören: Magere Kühe, die die fetten Kühe auffressen. Dürre Ähren, die die vollen Ähren verschlingen. Der Pharao braucht jemanden, der seine Träume richtig deuten kann. Es kommt also darauf an, wie man sich mit einem Traum auseinander setzt, seine verschiedenen Teile sortiert und auslegt. Wer die Kunst der Traumdeutung damals im Alten Orient beherrscht hat, unterschied Wichtiges von Nebensächlichem, um die Botschaft des Traums herauszufinden. Es kommt nicht auf jedes Detail an, sondern auf den Kern des Traums. So geht Josef in der Bibel ans Werk, als er die Träume des Pharao interpretiert. Er spekuliert nicht darüber, wie Kühe und Ähren sich gegenseitig auffressen können. Er sieht die Botschaft, dass nach sieben fetten Jahren sieben magere kommen werden.

Ein Traum ist nicht einfach eins zu eins eine Zeitansage, ein Schicksal, das man nicht ändern kann. Josef macht einen konkreten Vorschlag, wie der Pharao handeln kann, damit die mageren Jahre eben nicht den Ertrag der fetten Jahre verschlingen. Träume sind in der Bibel keine Befehle von Gott, die der Mensch blind auszuführen hätte. Sie liefern Stoff zum Nachdenken und eröffnen dem Träumer den Handlungsspielraum, um zu reagieren.

Warum überhaupt träumen wir? Damit beschäftigt sich die heutige Schlafforschung. „Beim Träumen ist fast das ganze Gehirn aktiv“, erklärt Werner Cassel. Er ist Psychologe am Zentrum für Schlafmedizin an der Universitätsklinik in Marburg. Was wir im Traum erleben, spielt sich besonders im frontalen Cortex ab, also in der Region des Gehirns, in der unser Bewusstsein lokalisiert ist. Wir träumen jede Nacht und in allen Schlafphasen – ob wir uns daran erinnern oder nicht. Aber die Träume, in denen wir ganze Geschichten erleben, sind begrenzt auf den sogenannten „REM-Schlaf“. REM steht für „Rapid Eye Movement“, wenn sich im Schlaf die Augen unter den geschlossenen Lidern schnell hin und her bewegen.

„Träumen ist kein Wunschkonzert“, sagt Werner Cassel. Die Hälfte bis Zweidrittel unserer Träume hat negativen Inhalt – so wie der Pharao im Alten Ägypten von mageren Kühen träumt, die die fetten Kühe auffressen. Warum ist das so? Der Schlafforscher meint: „Wahrscheinlich haben Träume die Funktion, uns auf negative Situationen vorzubereiten, so dass wir im Wachzustand nicht von unseren Emotionen überrannt werden.“ Es geht um Erfahrungen wie Verlust, der Schrecken eines Kindes, plötzlich alleine zu sein, oder um den Albtraum, den viele kennen: Ich werde bedroht, muss vor einer Gefahr davonlaufen, aber meine Beine sind schwer wie Blei. Ich komme nicht vorwärts. Manchmal gelingt es, eine Angst zu überwinden und einen inneren Konflikt im Traum aufzulösen. So kann auch ein Traum, der mir Angst macht, mir letztlich weiterhelfen.

Die Menschen der Bibel nehmen Träume ernst. Aber sie sind auch kritisch. Immer wieder warnen Propheten in der Bibel davor, Träume einfach für bare Münze zu nehmen. Es gibt auch einfach unsinnige Träume oder solche, die vor allem etwas darüber erzählen, was den Träumer beschäftigt. Scharf warnt das Buch Jesus Sirach im Alten Testament davor, blind an Träume zu glauben. Da heißt es: „Narren verlassen sich auf Träume. Wer auf Träume hält, der greift nach dem Schatten und will den Wind haschen. Träume sind nichts anderes als Bilder ohne Wirklichkeit.“ (Sirach 34,1-3) Diese Warnung hat gewirkt. So werden im Alten Testament und später dann im rabbinischen Judentum Träume kritisch geprüft: Was ist das für ein Traum? Ist er einfach nur ein Hirngespinst, eine Spiegelung der Seele oder steckt in ihm eine Botschaft von Gott?

Mir hilft es, meine Träume so zu prüfen. Kann ich mir erklären, woher der Traum kam, weil er sich auf etwas bezieht, was mich in den letzten Tagen beschäftigt hat? Spiegelt er eine Angst oder Sorge und, wenn ja, vor was habe ich Angst? Die Sorge und die Angst für sich selbst beim Namen zu nennen, kann schon manchen Dämon vertreiben. So sortieren sich die Träume, und ich kann auch die erkennen, die nichts mit meinem Alltag zu tun haben, die ganz überraschend kommen und mir zeigen: In meiner Seele gibt es Bereiche, die ich selten betrete oder gar nicht kenne. Und die außerdem offenbaren: Es gibt noch weit mehr, als ich im Wachzustand wahrnehmen kann. So ergeht es dem zweiten großen Träumer der Bibel, der ebenfalls Josef heißt.

Seine Verlobte erwartet ein Kind. Guter Hoffnung sein, das ist für ein junges Paar aufregend. Da sind viele Gefühle am Platz. In die Vorfreude mischt sich die bange Frage: Wie werden wir als Eltern abschneiden? Sind wir der Aufgabe, ein Kind zu versorgen, gewachsen? Und was macht das mit uns als Paar, wenn wir jetzt eine Familie werden? Für Josef ist die Situation ein Albtraum. Maria, die Frau, die er heiraten will, ist schwanger. Aber nicht von ihm, dafür braucht er keinen Vaterschaftstest. Er hätte das Recht, sie öffentlich zu verstoßen. Das wäre eine Schande für Maria. Im schlimmsten Fall kann es sogar tödlich für sie und das ungeborene Kind enden.

Sie stünde als Ehebrecherin da und könnte gesteinigt werden. Josef beschließt, Maria heimlich zu verlassen. Lieber, er gilt als der Treulose, der die werdende Mutter sitzen lässt. Da träumt Josef. Im Traum erscheint ihm ein Engel und sagt zu ihm: „Fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von Gott. Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben.“ (nach Matthäus 1,20-21) Josef handelt ohne große Worte. Überhaupt ist von ihm kein einziges Wort in der Bibel überliefert. Aber er hält sich an das, was der Engel ihm im Traum gesagt hat, und nimmt Maria zu sich. Ohne Träume hätte es das Christentum also nicht gegeben.

Eine kritische Situation verfolgt einen oft bis in die Träume hinein. Tagsüber wälzt man die Fragen hin und her. Soll ich mich so entscheiden oder anders? Soll ich bleiben oder gehen? Wie auch immer ich es mache, es scheint keinen guten Ausweg aus der Geschichte zu geben. Zermürbt von dem inneren Konflikt will man in der Nacht nur schlafen, einfach abschalten. Aber im Traum läuft der Film weiter, und die Sorgen tanzen mit meinen schlimmsten Befürchtungen Tango. Umso überraschender ist der Traum, den Josef in seiner Krise hat, als er die schwangere Maria heimlich verlassen will. Was ihm im Schlaf begegnet, spiegelt nicht einfach nur seine Ängste wider. Der Traum zeigt ihm: Die Wirklichkeit ist nicht so klein und eng, wie deine Enttäuschung und deine Angst dir glauben machen. Gottes Möglichkeiten reichen viel weiter, als du dir im Wachzustand vorstellen kannst.

Der Engel sagt im Traum zu Josef: Fürchte dich nicht. Das ist der beste Stoff, aus dem die Träume in der Bibel sind. Wenn ein Traum mir die Angst vor einer Situation nimmt. Wenn er mir einen Ausweg zeigt, wo ich nur Hindernisse sehe. Wenn er Mut macht, eine Aufgabe anzupacken, auch wenn ich nicht weiß, wie ich sie schaffen soll. Dann sind Träume wie eine gute Eingebung von oben.

Kommen Träume von Gott? Nicht jeder, so die Erfahrung der Menschen in der Bibel. Aber sie erzählen von Träumen, die ihnen offenbart haben: Es gibt mehr als die nackte, harte Realität. Ich muss mich nicht fürchten, sondern kann auf die Zukunft hoffen. Solche Träume sind wie ein Wink des Himmels. Fürchte dich nicht, du findest einen Weg. Gott ist mit dir und will dich behüten. Solche Träume sind göttlich gut.

Wir sind am Ende unserer Traumreise durch die Bibel. Geträumt haben wir heute Nacht alle. Vielleicht ist bei Ihnen ja bei den Träumen aus der Bibel die Erinnerung an eigene Träume wach geworden. Ich finde es faszinierend, wie Träume in der Bibel Wege aus einer bedrohlichen Situation zeigen. Sogar die unheimlichen Träume sind kein böses Omen, sondern können helfen, Angst zu überwinden. Das ist die wichtigste Botschaft der biblischen Träume. Fürchte dich nicht. Wenn ein Traum so wirkt, ist er wie ein Fenster, das mir den Blick dafür öffnet: Gottes Welt ist tiefer und weiter, als ich oft ahne.

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